Die Zeit: Herr Scholz, was treibt Sie beim Blick auf die Flüchtlinge am meisten um?
Olaf Scholz: Mangel an Unterkünften. Jeden Tag kommen vierhundert bis fünfhundert Flüchtlinge nach Hamburg. Das sind mehr Menschen, als wir bis vor Kurzem in einem Monat aufgenommen haben. Wir können sie aber nur unterbringen, indem wir provisorische und schnelle Lösungen akzeptieren.
Die Zeit: Und das bedeutet?
Olaf Scholz: In Hamburg nutzen wir jetzt leerstehende Gewerbehallen und bringen dort Flüchtlinge in großen Schlafsälen unter. Mehrere Hundert Menschen wohnen in Zelten. Immerhin: Wir haben bisher noch keine Turnhallen und Sportplätze belegt.
Die Zeit: Können sie für jeden Flüchtling im Winter ein Dach über dem Kopf garantieren?
Olaf Scholz: Ich kann garantieren, dass unser ganzer Ehrgeiz darauf gerichtet ist, Unterbringung in Zelten zu vermeiden. Alles andere wäre eine Vorhersage über Dinge, die wir nicht allein beeinflussen können.
Die Zeit: Werden Sie in Hamburg nach den Besitzern von Gewerbeimmobilien demnächst auch die Inhaber von Privatwohnungen enteignen?
Olaf Scholz: Moment! In Hamburg wird niemand enteignet. Wir haben festgestellt, dass es in Hamburg Hallen gibt, die seit Längerem nicht genutzt werden und wo keine Vermietung oder Verpachtung bevorsteht. Deswegen haben wir geregelt, wann genau wir auf solche Immobilien zugreifen dürfen. Wir konkretisieren eine schon lange geltende Möglichkeit im deutschen Polizeirecht, um leerstehende Gewerbehallen sicherstellen zu können und Massenobdachlosigkeit zu vermeiden.
Die Zeit: Sie reden von Sicherstellung, andere nennen es Enteignung.
Olaf Scholz: Wir zahlen in allen Fällen Miete oder kaufen die Hallen. Und ich gehe davon aus, dass wir uns auch in Zukunft wie bisher schon mit den Eigentümern einigen können und die Verordnung nicht anwenden müssen.
Die Zeit: Wird es mittelfristig auch um Privatwohnungen gehen?
Olaf Scholz: Nein! In keinem Fall.
Die Zeit: Weil es politisch heikel ist?
Olaf Scholz: Weil es nicht helfen würde. Hamburg hat von allen 16 Bundesländern den geringsten Leerstand bei den Wohnungen. Deshalb habe ich, als ich Bürgermeister wurde, das größte Wohnungsbauprogramm Deutschlands angeschoben.
Die Zeit: Das scheint jetzt nicht zu reichen.
Olaf Scholz: Wir forcieren den Wohnungsbau weiter. Aber in Deutschland dauert das Bauen sehr lange. Sie müssen zwei bis drei Jahre für den Bebauungsplan, drei bis sechs Monate für die Baugenehmigung und zwei bis drei Jahre fürs Bauen rechnen. Wir haben uns vorgenommen, jetzt schnell neue Häuser als Flüchtlingsunterkünfte zu bauen und entsprechend dicht zu belegen. In einigen Jahren werden wir sie dann als Sozialwohnungen vermieten.
Die Zeit: Was heißt das für die Flüchtlinge?
Olaf Scholz: Sie werden sehr lange in Gemeinschaftsunterkünften leben müssen, da darf man sich nichts vormachen.
Die Zeit: Muss die Bundesregierung den Zuzug von Flüchtlingen begrenzen?
Olaf Scholz: Der Umgang mit der großen Zahl von Flüchtlingen ist eine europäische Aufgabe Die EU muss sich stärker in den Flüchtlingslagern, zum Beispiel im Libanon oder in der Türkei, engagiert und die Hotspots für die Aufnahme von Flüchtlingen in Griechenland und Italien unterstützen. Und es müssen mehr europäische Staaten Flüchtlinge aufnehmen.
Die Zeit: Sollen Menschen an der deutsch-österreichischen Grenze oder an Flughäfen abgewiesen werden, wie Unionspolitiker fordern?
Olaf Scholz: Ich bin da skeptisch. Die Grenzen, für die wir Deutschen uns stärker verantwortlich fühlen müssen, sind die Außengrenzen der EU. Sie werden in Zukunft häufiger so aussehen, wie man sich Grenzen klassischerweise vorstellt.
Die Zeit: Meinen Sie: Mit hohen Zäunen, Stacheldraht und Gräben?
Olaf Scholz: Die meisten Grenzen haben Zäune. Das sollten wir nicht kritisieren. Wir werden künftig auch finanzielle Verantwortung übernehmen müssen, damit die Außengrenzen der EU in Ungarn, Polen, Rumänien, Italien oder Griechenland gesichert werden. Denn das sind auch unsere Grenzen.
Die Zeit: Sollen wir dafür auch Personal bereitstellen?
Olaf Scholz: Darum geht es jetzt nicht, aber ausgeschlossen ist das nicht. Wir müssen drei Dinge erreichen: erstens die Grenzen sichern, zweitens das Leben der Flüchtenden schützen und drittens Menschen davon überzeugen, sich nicht auf den Weg zu machen, wenn sie es nicht wegen politischer oder religiöser Verfolgung oder Krieg tun.
Die Zeit: Was ist, wenn die Flüchtlinge trotzdem kommen?
Olaf Scholz: Es wird immer Menschen geben, die versuchen, die Außengrenzen der EU illegal zu überschreiten und dabei gefährliche Wege akzeptieren, die auch ihr Leben bedrohen. Darauf gibt es keine einfache Antwort, wie man in der ganzen Welt sehen kann. Viele Länder mit einer offenherzigen Migrationspolitik kommen trotzdem nicht ohne Zäune aus. Angesichts des Wohlstandgefälles und der unterschiedlichen Zukunftsperspektiven in der Welt scheint es mir unrealistisch, zu glauben, dass uns das erspart bleibt. Auch wir müssen, einerseits Grenzen sichern und andererseits offen für Zuwanderer sein. Diese Doppelaufgabe werden wir in den kommenden Jahrzehnten nicht loswerden.
Die Zeit: Wollen Sie auch die Zahl der Abschiebungen erhöhen? Im vergangenen Winter haben einige Länder Abschiebestopps verhängt.
Olaf Scholz: Ich habe das nie für richtig gehalten. Wir schieben ohnehin niemanden in eine für ihn bedrohliche Situation ab. Deshalb brauchen wir auch keine Spezialregelungen für unterschiedliche Jahreszeiten.
Die Zeit: Ohne Kontrollen innerhalb der EU wird der Andrang nach Deutschland aus den Nachbarländern anhalten.
Olaf Scholz: Wir sollten die Freizügigkeit innerhalb des Schengen-Raumes und innerhalb der Europäischen Union nicht infrage stellen. Wir müssen allerdings in einem wichtigen Punkt die geltenden Regeln präzisieren.
Die Zeit: Was schlagen Sie vor?
Olaf Scholz: Momentan dürfen 500 Millionen EU-Europäer innerhalb der EU ihren Wohn- und Arbeitsort frei wählen. Dabei gibt es auch Probleme, aber trotz des unterschiedlichen Lebensstandards keine größeren. Das liegt daran, dass sich zwar jeder in der EU nach Arbeit umgucken kann, am Ende aber der Herkunftsstaat für Sozialleistungen zuständig ist. Wer aus Thessaloniki, Porto oder Riga nach Hamburg kommt, hat keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II, wenn er keinen Job findet. Nur wenn er längere Zeit bei uns beschäftigt war, ändert sich das. Der Europäische Gerichtshof hat dieses Prinzip gerade bestätigt. Anders kann Freizügigkeit in Europa auch nicht funktionieren.
Die Zeit: Was folgt daraus für Flüchtlinge?
Olaf Scholz: Wir müssen unser geltendes Recht etwas genauer fassen, dann kann es auch für anerkannte Asylbewerber gelten. Anspruch auf Sozialleistungen sollte jemand haben, der in einem Land ein Jahr lang eine Vollzeitbeschäftigung hatte, für die der Mindestlohn oder mehr gezahlt wurde, also mindestens 1470 Euro brutto im Monat. Wenn das klar wäre, könnte man jemanden, der in Polen Asyl erhalten hat, ohne Probleme beim Arbeits- und Sozialrecht genauso behandeln wie einen polnischen Staatsbürger.
Die Zeit: Aber wer aus Syrien oder Eritrea kommt, kann im Fall des Scheiterns nicht in sein Heimatland zurück.
Olaf Scholz: Nein, dann ist das Ankunftsland innerhalb der EU verantwortlich. Aber wir würden den Flüchtlingen signalisieren: Auch wer zunächst in Polen oder Österreich Asyl beantragen muss, kann sich später um Arbeit in Deutschland bemühen. Der Druck, sofort nach Deutschland zu kommen, wäre kleiner. Zugleich würde so ein Vorgehen vielleicht helfen, EU-Staaten mit wenigen Flüchtlingen zu überzeugen, mehr Menschen aufzunehmen.
Die Zeit: Reden wir über Integration. Es fehlt an Kitas, Lehrern, Erziehern, Polizisten. Wie gehen sie damit um?
Olaf Scholz: Wir stellen ein.
Die Zeit: Brauchen wir ein Burka-Verbot?
Olaf Scholz: Ich glaube, dass unsere offene, säkulare Gesellschaft dafür sorgen wird, dass Kleidungsmoden aus anderen Jahrhunderten verschwinden.
Die Zeit: Sie haben gesagt, wir müssen unsere Werte vermitteln. Wie macht man das?
Olaf Scholz: Indem man auf ihnen besteht. Wir sollten konsequent auf die Einhaltung von Gesetzen achten. Die Bedeutung der Schulpflicht wird zum Beispiel unterschätzt. Untersuchungen zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen Fehlzeiten in der Schule und späterer Kriminalität gibt. In Hamburg haben wir deshalb die Härte beim Durchsetzen der Schulpflicht Stück für Stück erhöht,
Die Zeit: Nicht jede Missachtung unserer Kultur ist ein Gesetzesbruch, den man ahnden kann. Was ist mit denen, die zum Beispiel wenig von Gleichberechtigung halten?
Olaf Scholz: Wir sind nicht nur eine der liberalsten und tolerantesten Gesellschaften der Welt, sondern sollten es auch bleiben. Wenn es jemandem nicht gefällt, dass Frauen hier kurze Röcke tragen oder Männer sich auf der Straße küssen, ist es in Ordnung, demjenigen klar zu sagen: Okay, so sind wir hier.
Die Zeit: Lädt Toleranz nicht zu dem Missverständnis ein, dass alles erlaubt ist?
Olaf Scholz: Wer ein Gesetz verletzt, muss mit der Härte des Gesetzes rechnen, egal, wer er ist und wo er herkommt. Abgesehen davon sollten wir weniger ängstlich sein, sondern selbstbewusst davon ausgehen, dass unsere Art zu leben auch für andere attraktiv ist.
Die Zeit: Müssen wir selbst patriotischer werden, um anderen das Ankommen zu erleichtern?
Olaf Scholz: Ich finde, dass wir auf vieles in unsere Gesellschaft stolz sein können: auf die Liberalität, die Offenheit, den Rechtsstaat, den Bildungsstaat, das Arbeitsethos.
Die Zeit: Müssen sich nur die Flüchtlinge an uns anpassen oder können eher wir mehr von ihnen lernen?
Olaf Scholz: Es gibt eine Dynamik, die sich aus der Hoffnung speist. Zu uns kommen Menschen, die zunächst mal sehr viel Hoffnung haben. Das kann zu einer Beschleunigung von Wohlstands- und Wachstumsprozessen in unserem Land führen.
Die Zeit: Was würden Sie einem Syrer raten, der Deutschland besser verstehen will? Soll er Bach hören oder doch eher Helene Fischer?
Olaf Scholz: Ich glaube, die meisten haben uns ganz gut verstanden. Die sind nämlich deshalb hier, weil wir sind, wie wir sind.
Das Interview führten Marc Brost und Elisabeth Niejahr.