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30.10.2016

"Man muss die Dinge, die zu tun sind, auch tun." Interview mit dem "Tagesspiegel"

"Man muss die Dinge, die zu tun sind, auch tun." Interview mit dem "Tagesspiegel"

 

Tagesspiegel: Herr Scholz, was macht gute politische Führung aus?

Olaf Scholz: Politische Führung heißt, die Dinge voranzubringen, die vorangebracht werden müssen. Man sollte einen Plan haben, der langfristig angelegt ist und an dem man verlässlich festhält, auch wenn es Widerstände gibt.

Tagesspiegel: Hat die SPD so einen Plan?

Olaf Scholz: Natürlich. Wir haben drei große Aufgaben: Wir müssen die Europäische Union stärken, unseren Wohlstand und unseren Sozialstaat in dem Zeitalter der Globalisierung sichern sowie Zuwanderung und Integration regeln. Und, viertens, stehen wir permanent vor der Herausforderung, die Sicherheitsarchitektur der Welt zu verbessern.

Tagesspiegel: Wie wollen Sie das genau erreichen?

Olaf Scholz: Deutschland wird nur eine gute Zukunft haben in einer starken EU. Deshalb ist es unsere wichtigste Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich die EU behauptet. Mit mehr Investitionen, mehr Bildung und mehr Förderung modernster Technologien wollen wir unseren Wohlstand sichern in einer Zeit, in der die Wachstumsraten in allen Industriestaaten zurückgehen und die Einkommen der Mittelschichten stagnieren, die unteren Einkommen sogar sinken. Und bei der Zuwanderung nach Deutschland und Europa geht es auch um eine kluge Steuerung und eine gelungene Integration.

Tagesspiegel: Wie viel Härte ist notwendig, um einen großen Plan durchzusetzen?

Olaf Scholz: Führung ist keine Attitüde, es geht um Verantwortung. Man muss die Dinge, die zu tun sind, auch tun.

Tagesspiegel: Von Ihnen stammt der Satz: Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch. Gibt es auch unter SPD-Wählern eine Sehnsucht nach Autorität?

Olaf Scholz: Überhaupt nicht, aber alle Bürgerinnen und Bürger wollen, dass das Land gut geführt wird.

Tagesspiegel: Wie gehen Sie in Hamburg mit innerparteilichem Widerstand um?

Olaf Scholz: Die Hamburger SPD ist eine lebendige und diskussionsfreudige Partei. Wir haben einen Weg gefunden, unsere Debatten nicht öffentlich auszutragen, sondern vertraulich zu führen. Das gelingt ganz gut. Wir treffen dann Entscheidungen, zu denen wir alle stehen. Deshalb haben die Hamburgerinnen und Hamburger das Gefühl, dass ihre Stadt gut regiert wird. Und dass sie sich auf die Verantwortlichen, an deren Spitze der Bürgermeister steht, verlassen können.

Tagesspiegel: Ist Ihr Rezept auf den Bund übertragbar?

Olaf Scholz: Es ist kein Rezept, sondern so muss man das machen in Hamburg und im Bund: intern diskutieren, klar entscheiden und dann nicht wackeln.

Tagesspiegel: Hat es SPD-Chef Sigmar Gabriel im Bund schwerer als Sie in Hamburg?

Olaf Scholz: Solche Vergleiche führen nicht weit. Der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vorzustehen und als Vizekanzler Politik zu machen, ist sicher eine sehr, sehr große Aufgabe.

Tagesspiegel: Ist die SPD eine Partei, die gerne nach Führung ruft, sie aber nur schwer erträgt?

Olaf Scholz: Das steht so oft in den Zeitungen, dass es gar nicht stimmen kann. Sozialdemokraten wissen, dass Politik ohne Führung nicht funktioniert.

Tagesspiegel: Aber was ist das für eine Partei, die ihren Vorsitzenden mit nur 70 Prozent wiederwählt und damit an den Rand des Rücktritts treibt?

Olaf Scholz: Der Parteitag liegt nun fast ein Jahr zurück, dafür interessiert sich doch keiner mehr. Ich hätte Sigmar Gabriel ein besseres Ergebnis gewünscht, und er sich sicher auch. Tatsache ist aber, dass der Vorsitzende mit großer Mehrheit einen Führungsauftrag erhalten hat. Und den erfüllt er.

Tagesspiegel: Hat die SPD noch den Anspruch, das Land zu führen?

Olaf Scholz: Ja, als Volkspartei darf sie ihn auch niemals aufgeben. Die SPD muss immer den Ehrgeiz haben, stärkste Partei zu werden und den Regierungsauftrag zu erringen. Sie sollte deshalb nur vorschlagen, was dem Land dient und was sie in der Regierung umsetzen kann.

Tagesspiegel: Ist Ihr Führungsanspruch glaubwürdig, solange die SPD in Umfragen unter 25 Prozent liegt und keine Machtperspektive in Sicht ist?

Olaf Scholz: Man wird nicht für irgendwelche Koalitionsoptionen gewählt, sondern für seine Politik. Im Wahljahr 2017 geht es darum, mit einer glaubwürdigen sozialdemokratischen Kampagne das Mandat zur Führung der Bundesregierung zu erkämpfen. Und das können wir schaffen.

Tagesspiegel: Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?

Olaf Scholz: Die politische Landschaft in Deutschland ist in Bewegung. Die Union hat schwere Verluste hinnehmen müssen. Es ist für die SPD keine unlösbare Aufgabe, am Wahlabend vorne zu liegen. Wenn die Bürgerinnen und Bürger sich einen Kanzler der SPD wünschen, können wir unsere aktuellen Umfragewerte durchaus um zehn Prozentpunkte steigern. Die SPD sollte deshalb selbstbewusst für ihre Pläne werben.

Tagesspiegel: Ist Rot-Rot-Grün 2017 eine realistische Machtoption?

Olaf Scholz: Ich habe gerade gesagt, wir brauchen ein politisches Konzept, mit dem wir das Land führen können. Das werde ich nun doch nicht entwerten, indem ich doch über Koalitionen rede. Das Ziel ist klar: Die SPD muss so stark wie möglich werden.

Tagesspiegel: Vor wenigen Wochen haben Sie eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei im Bund als nicht realistisch verworfen. Gilt das nicht mehr?

Olaf Scholz: Deutschland ist die stärkste Volkswirtschaft in Europa. Alles, was dieses Land tut oder unterlässt, hat Folgen für andere EU-Länder. Deshalb kann Deutschland nicht von Parteien geführt werden, die sich nicht eindeutig zur EU und zur Westbindung bekennen. Jede Bundesregierung und alle Parteien, die sie tragen, müssen hier einen klaren Kurs haben. Und da hege ich bei der Partei "Die Linke" gewisse Zweifel. Fraktionschefin Sahra Wagenknecht äußert sich genauso europafeindlich wie AfD-Chefin Frauke Petry. Das ist erschreckend. So wird man sicher nicht regierungsfähig.

Tagesspiegel: Während ein Teil der SPD ein Linksbündnis vorbereitet, arbeiten die sozialdemokratischen Minister in der großen Koalition an einem gemeinsamen Rentenpaket. Wollen Sie das Thema unbedingt aus dem Wahlkampf heraushalten?

Olaf Scholz: Über Jahrzehnte gab es einen Konsens der großen Parteien über die langfristige Entwicklung der Rentenversicherung, das war eine verlässliche Säule der sozialen Sicherheit in Deutschland. Erst Helmut Kohl hat diesen Konsens in seiner letzten Amtszeit aufgekündigt, das war ein schwerer Fehler. Mittlerweile haben sich SPD und Union in der Rentenfrage einander wieder angenähert, aber noch keinen Konsens gefunden, den brauchen wir aber. Wer berufstätig wird, bevor er 20 Jahre alt ist, und bis zum 67. Lebensjahr Beiträge zahlt, muss sich darauf verlassen können, dass die Rentenversicherung stabil bleibt.

Tagesspiegel: Ihr Parteichef Gabriel und CSU-Chef Horst Seehofer wollen das Rentenniveau auf dem heutigen Niveau von 48 Prozent des Durchschnittslohns stabilisieren. Ist das finanzierbar?

Olaf Scholz: Die SPD diskutiert über die Stabilisierung des Rentensicherungsniveaus. Was das bedeutet für die Beiträge, die Steuerzuschüsse zur Rentenversicherung und die Höhe der Renten, muss jetzt austariert werden. Wir müssen eine Antwort geben, die so plausibel ist, dass wir die Bürgerinnen und Bürger davon überzeugen können, dass sie funktioniert und zwar auf Dauer.

Tagesspiegel: Wie groß ist die Gefahr, dass die Volksparteien, auch aus Angst vor der AfD, unhaltbare Rentenversprechen machen?

Olaf Scholz: Dieser Versuchung sollte jeder widerstehen, der politische Verantwortung trägt. Wer Versprechen macht, die mehr mit Wünschen als mit der Realität zu tun haben, zerstört das Vertrauen in Politik.

Tagesspiegel: Apropos Vertrauen: Das Gezerre um das Freihandelsabkommens Ceta hat das Ansehen der EU schwer beschädigt. Ist Europa noch handlungsfähig?

Olaf Scholz: Die Frage hat Ceta neu aufgeworfen, aber sie stellt sich in Wahrheit schon lange. Europa hat ein Legitimationsproblem. Es war ein Fehler, es vor allem dem Internationalen Währungsfonds zu überlassen, Griechenland die nötigen Reformen vorzugeben, statt sie politisch selbst auszudiskutieren.

Tagesspiegel: Mangelt es Europa an politischer Führung?

Olaf Scholz: Ich fürchte, das ist so. Führung funktioniert, wenn die Ergebnisse der politischen Aushandlungsprozesse akzeptiert werden. Die Verantwortlichen der Europäischen Union, die ja aus einer Wirtschaftsgemeinschaft hervorgegangen ist, bei der es lange vor allem um Handelserleichterungen ging, folgen immer noch zu oft nur dieser einen Logik. Wir brauchen aber eine politische Willensbildung, die sich auch am Interesse der Menschen orientiert, damit das Vertrauen in Europa nicht verloren geht.

Tagesspiegel: Gibt es dafür konkrete Beispiele?

Olaf Scholz: Nehmen Sie Uber, das soziale Netzwerk zum Ersatz von Taxis durch Privatleute. Das war technisch innovativ, missachtete aber alle Regeln für Verkehrssicherheit oder soziale Sicherheit, die bei uns gelten. Deshalb haben fast alle deutschen Bundesländer diese Tätigkeit von Uber verboten, viele andere EU-Länder haben das ebenfalls gemacht. Nun fordert die EU-Kommission in Papieren, die Verbote rückgängig zu machen. Das ist gefährlicher Unsinn, denn es untergräbt doch den Glauben daran, dass wir über Instrumente verfügen, um den technischen Fortschritt sozial und sicher zu gestalten. Wir können den Bürgerinnen und Bürgern die Vorbehalte vor der Globalisierung nur nehmen, wenn wir ihnen beweisen, dass die EU sie schützt.

Tagesspiegel: Die Krise Europas ist nur eine Herausforderung, die auf den nächsten Bundeskanzler wartet. Was muss der Sozialdemokrat mitbringen, der die SPD in den Wahlkampf 2017 führen und gewinnen kann?

Olaf Scholz: Er muss ein guter Typ sein. Oder eine gute Typin. Die Menschen müssen sich gut fühlen bei dem Gedanken, dass er oder sie an der Macht ist. Das Land ist in unsicheren Zeiten. Die Kanzlerkandidatur muss mit einem vernünftigen sozialdemokratischen Programm verbunden sein. Die zentrale Botschaft lautet: Wenn man sich anstrengt und hart arbeitet, ist ein gutes Leben möglich dafür sorgt die SPD.

Tagesspiegel: Und Parteichef Gabriel oder EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sind so gute Typen, dass die SPD mit ihnen siegen kann?

Olaf Scholz: Ja, beide sind gute Typen.

Tagesspiegel: Und Sie? Stehen Sie als Kanzlerkandidat zur Verfügung, falls Gabriel verzichtet?

Olaf Scholz: Netter Versuch. Wir sind hier doch nicht beim Topfschlagen. Eine Partei, die das Land regieren will, muss sich ernsthaft verhalten. Dazu gehört, dass man sich an Verabredungen hält, gerade was das Verfahren bei der Kanzlerkandidatur angeht. Es bleibt dabei: Der Vorsitzende wird bis Anfang des nächsten Jahres einen Vorschlag machen.

Tagesspiegel: Kanzlerin Merkel wird mit großer Wahrscheinlichkeit noch vor dem CDU-Parteitag Anfang Dezember erklären, dass sie wieder antritt. Die SPD steht dann ohne Kanzlerkandidat da. Kann das gut gehen?

Olaf Scholz: Da bin ich gelassen. Jeder weiß doch seit Langem, dass Frau Merkel wieder antreten und dies spätestens im Dezember erklären wird. Wir treffen unsere Entscheidung zu dem Zeitpunkt, den wir für richtig halten.

Tagesspiegel: Was sagt es eigentlich über die Führungsfähigkeit der deutschen Politik aus, wenn sich die Vorsitzenden der Volksparteien nicht auf einen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten einigen können?

Olaf Scholz: Ich finde es gut, dass sich die Koalitionsparteien auf einen Kandidaten einigen wollen. Diese Einigung darf aber nicht als unverständliche Hinterzimmerpolitik daherkommen. Frank-Walter Steinmeier ist der Politiker, den sich die meisten Deutschen als Staatsoberhaupt wünschen. Wer diesen Wunsch aus reiner Parteitaktik missachtet, schadet schnell dem Ansehen der Demokratie. Für das höchste Amt im Staate kommt nur eine Persönlichkeit infrage, die einen ähnlich hohen Respekt genießt. Davon gibt es nicht sehr viele.

 

Das Interview führten Hans Monath und Stephan Haselberger.