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27.05.2009

Mit Sozialpartnerschaft durch die Krise

Rede von Olaf Scholz anlässlich des FOCUS Symposiums Arbeitsrecht

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir befinden uns in einem Jahr der deutschen Jubiläen:

60 Jahre Bundesrepublik Deutschland vor wenigen Tagen 60 Jahre Grundgesetz 60 Jahre Tarifvertragsgesetz im Spätsommer und Herbst 20 Jahre friedliche Revolution. Da macht sich ein Ereignis, dass sich auf den Tag genau heute jährt, geradezu unbedeutend aus auch weil es in unserem kollektiven Gedächtnis längst verblasst ist und den Geschichtsbüchern überlassen wurde. Ich möchte es dennoch kurz erwähnen, denn es war der erste Wegbereiter zur Vorbereitung der folgenden Ereignisse, die wir in diesen Tagen feiern dürfen.

Am 27. Mai 1832 versammelten sich mehrere zehntausend Bürger und damals noch revolutionär: auch zahlreiche Bürgerinnen um für Versammlungs-, Presse- und Meinungsfreiheit, für Bürgerrechte und für einen vereinten deutschen Staat in einem Europa gleichberechtigter Völker zu streiten. Die Rede ist vom Hambacher Fest. Die damaligen Forderungen nach einem demokratischen, föderalen Staat haben noch sehr viel Zeit benötigt, bis sie umgesetzt wurden. Aber sie sind einer der ersten Steine des festen Fundaments, auf dem unser Gemeinwesen und nicht zuletzt auch der solidarische Sozialstaat heute steht.

Auch das Arbeitsrecht steht in dieser guten Tradition. Es ist die Reaktion auf ein soziales Ungleichgewicht, das die Arbeitswelt noch bis in das 20. Jahrhundert geprägt hat.

Das Hambacher Fest lehrt uns: Ein Recht, das Ungleichgewicht dauerhaft festschreibt, findet auf kurz oder lang keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Es erregt demokratischen und sozialen Protest. Auch wenn der Erfolg manchmal lange auf sich warten lässt. Das gilt in besonderem Maße für eine Rechtssituation, die zu Beginn der Industrialisierung Ungleiche gleich behandelte:

Für ein Recht, das keinen Unterschied zwischen Arbeitsverträgen und gewöhnlichen Dienstverträgen kannte und somit auch kein Streikrecht, keinen Kündigungsschutz oder andere Arbeitnehmerrechte.

Dass der soziale Ausgleich in den Arbeitsbeziehungen heute durch kluge rechtliche Regeln verbürgt ist, verdanken wir vor allem dem gesellschaftlichen Engagement der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dem Einsatz von Bürgerinnen und Bürgern, von Gewerkschaften und Sozialpartnern.

Ihnen verdanken wir, dass wir in diesen Tagen eben nicht nur 60 Jahre Bundesrepublik, sondern auch 60 Jahre Grundgesetz und damit 60 Jahre Koalitionsfreiheit im Artikel 9 feiern können und dass die Verhandlungen der Sozialpartner seit 60 Jahren auf der Grundlage des Tarifvertragsgesetzes für sozialen Frieden sorgen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

das Arbeitsrecht hat sich von unten nach oben entwickelt unterstützt durch Richterinnen und Richter, die unter dem Eindruck dieser Bewegung geholfen haben, vieles auf die richtige Spur zu bringen. Das erklärt die relative Zurückhaltung des Gesetzgebers auf diesem Gebiet. Wir sind lange gut damit gefahren, den Sozialpartnern sehr viel Freiraum bei der Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen zu lassen. Von Kolleginnen und Kollegen im Ausland ernte ich da oft Erstaunen, weil dort vieles längst in Gesetzesform gegossen wurde. Bei uns funktioniert der Ausgleich vor allem, weil starke Verhandlungspartner kluge und ausgewogene Regelungen finden können. Dieses Modell hat uns stark gemacht. Die Kreativität der Betriebsräte bei der Bewältigung auch schwierigerer Zeiten und die Flexibilität des Systems sind riesige Vorteile im Wettbewerb. Das zahlt sich auch gerade jetzt in der Krise aus.

Wir erleben sehr schwierige Zeiten. Wir erwarten die tiefste Rezession in der 60-jährigen Geschichte der Bundesrepublik. Minus 6 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt das ist ein wirtschaftlicher Einschnitt, wie wir ihn in dieser Zeit noch nie erlebt haben.

In den letzten Monaten hat sich eindrucksvoll gezeigt, dass wir auf den Sachverstand der Betriebsräte bauen können. So schwierig die Situation ist: Allen wird jetzt besonders bewusst, was wir am Miteinander im Betrieb an der Suche nach gemeinsamen Lösungen durch Verhandlungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern haben. Auch Arbeitnehmerrechte, wie der Kündigungsschutz erweisen sich jetzt als klug und wichtig. Die Bürgerinnen und Bürger haben Vertrauen in den sozialen Ausgleich in diesem Land. Sie wissen, dass wir das gemeinsam packen, das wir uns insgesamt gut aufgestellt haben. Sachliche Gelassenheit und Pragmatismus gehören zu den neueren deutschen Tugenden, die wir erst relativ spät gelernt haben.

Es gibt heute auch gute Gründe, nicht schwarz zu malen:

Unsere Unternehmen sind wettbewerbsfähig: In schwierigen Anpassungsprozessen haben wir in den letzten Jahren die Sozialversicherungssysteme auf stabile Füße gestellt: In der Rentenversicherung und bei der Bundesagentur für Arbeit konnten in guten Zeiten viele Milliarden an Rücklagen gebildet werden. Der Staat hat sich wieder größere Handlungsspielräume geschaffen, die wir jetzt nutzen können.

Der solidarische Ausgleich in unserem Land funktioniert gut. In anderen Ländern ernte ich anerkennende und auch neidische Kommentare, wenn von unseren sozialen Sicherungssystemen die Rede ist.

Wichtig für diese Stabilität war natürlich, dass nach Jahrzehnten steigender Massenarbeitslosigkeit endlich die Trendwende gelungen ist. Die Reformen am Arbeitsmarkt haben dazu geführt, dass noch im Oktober/November letzten Jahres weniger als 3 Millionen ohne Arbeit waren:

Ein großes Zeichen der Hoffnung für viele, die das Phänomen der Langzeitarbeitslosigkeit schon schicksalhaft hingenommen hatten. Erstmals seit den 80er Jahren ist es uns gelungen, die Sockelarbeitslosigkeit abzuschmelzen. Die weltweite Finanzkrise hat diesen Trend vorerst jäh gestoppt. Zumindest die konjunkturell bedingte Arbeitslosigkeit steigt jetzt wieder an. Es muss uns in dieser Situation vor allem darum gehen, so viele wie möglich in Beschäftigung zu halten. Deswegen haben wir frühzeitig das Kurzarbeitergeld ausgebaut schon lange bevor die Krise den Arbeitsmarkt erreicht hatte.

Wir haben die Möglichkeit zur Kurzarbeit zunächst auf 18 Monate verlängert und eine hälftige Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge durch die Bundesagentur für Arbeit vereinbart. Außerdem haben wir die Beantragung deutlich vereinfacht und klargestellt, dass Kurzarbeit auch für befristet Beschäftigte und für Zeitarbeitnehmer möglich ist. Das ist ein gutes Beispiel, wie bewährte Instrumente des Sozialstaats für moderne Zeiten fit gemacht werden können.

Die Devise heute heißt Qualifizieren statt Entlassen. Wir fordern alle Arbeitgeber auf: Nutzt die Kurzarbeit, um Eure Beschäftigten auf den neuesten Stand zu bringen, ihnen einen Berufsabschluss zu ermöglichen oder sich anders weiterzubilden. Wir unterstützen das massiv, indem vom ersten Monat an die vollen Sozialversicherungsbeiträge übernommen werden, wenn während der Kurzarbeit qualifiziert wird.

Außerdem haben wir mit Hilfe von Mitteln aus dem Europäischen Sozialfonds erstmals eine direkte Förderung der Maßnahmen möglich gemacht. Andere Programme haben wir massiv ausgebaut wie zum Beispiel das Programm WeGebAU für An- und Ungelernte, sowie ältere Beschäftigte. Einen weiteren Schwerpunkt haben wir auf die Förderung von Weiterbildungsmaßnahmen für Über-25-Jährige ohne Berufsabschluss gelegt.

Übrigens: Ganz unabhängig von der Krise muss es dabei unser Ziel sein, dass wir die Beteiligung an Weiterbildungen auf 50 Prozent steigern.

Meine Damen und Herren,

ich bin im ständigen Gespräch mit den Unternehmen, den kleinen und mittleren, aber auch den DAX-30. Viele stehen jetzt vor der Entscheidung: Schaffe ich es bis zum Ende der Krise, meine bewährten Leute zu halten? Ich habe da immer wieder gehört, dass sie jetzt Planungssicherheit brauchen, dass mit Kurzarbeit in jedem Fall die gesamte Zeit der Flaute überbrückt werden kann.

In einer Situation wie der derzeitigen Krise ist es selbstverständlich, dass man immer bereit sein muss, auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren. Deswegen haben wir im Kabinett vor genau einer Woche weitere Verbesserungen beim Kurzarbeitergeld beschlossen: Wir haben eine Verlängerung bis 24 Monate ermöglicht und wir sorgen dafür, dass ab dem siebten Monat die Sozialversicherungsbeiträge in jedem Fall voll übernommen werden. Das Instrument der Kurzarbeit wirkt. Wir haben so schon jetzt mehrere Hunderttausend Arbeitsplätze sichern können.  Und das ist nicht nur für die Betroffenen eine gute Nachricht. Das ist vor allem auch gut für die Unternehmen, denn sie werden diese Leute in Zukunft wieder dringend brauchen. Und es ist auch für den Sozialstaat gut, denn er gibt so weniger Geld aus, als wenn er die Arbeitslosigkeit der Beschäftigten finanzieren müsste. Wir haben die Chance, gestärkt aus der Krise hervorzugehen, wenn wir die Nerven behalten.

Die Wirtschaft wird durch Qualifizierungen klüger in der Krise. Und die Unternehmen können mit ihren eingearbeiteten Leuten durchstarten, sobald es wieder bergauf geht. Denn auch die Suche nach neuen Mitarbeitern ist eine teure Angelegenheit, die wir so vermeiden können. Wer einmal entlassen ist, der kommt so schnell nicht wieder. Wer aber merkt, dass er sich auch in schwierigen Zeiten auf den Arbeitgeber verlassen kann, der wird auch später loyal zum Unternehmen stehen, sich engagieren und leichter zu halten sein.

Genauso wichtig wie die Sicherung der Beschäftigung in der Krise ist die Sicherung der Ausbildung. Denn wir brauchen diese Fachkräfte dringend, wenn wir eine gute Zukunft wollen. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, mindestens ein Drittel jeden Jahrgangs an den Hochschulen auszubilden. Aber auch wenn wir dieses Ziel erreichen, heißt das, dass zwei Drittel der Jugendlichen weiterhin aufgrund einer klassischen Berufsausbildung ihren Weg gehen werden. Die duale Ausbildung bleibt deshalb auf Dauer die wichtigste Ausbildung in unserem Land!

Die Vorgaben des Ausbildungspakt aus dem letzten Jahr wurden eingehalten und es wurden über 600.000 neue Plätze geschaffen. Da dürfen wir auch dieses Jahr nicht drunter landen. Wir brauchen wieder mindestens so viele Ausbildungsplätze wie im letzten Jahr! Die Personalchefs der DAX-30 haben mir versichert, an der Ausbildung nicht zu sparen. Sie wissen, dass sie sonst ihre eigene Zukunft gefährden würden. Auch aus anderen Betrieben und Verbänden erreichen mich ähnliche Signale. Das sind gute Zeichen, dass wir das hinbekommen.

Zurückgehende Schülerzahlen sind im Übrigen auch keine Ausrede für weniger Ausbildungsplätze. Das kann schon deshalb nicht zählen, weil wir auch Chancen für die vielen so genannten Altbewerber, die schon seit einem oder mehreren Jahren vergeblich nach einem Platz suchen. Weniger Schulabgänger sind die Chance, diesen jungen Leuten endlich eine Perspektive zu geben. Auf meine Anregung haben sich daher die Paktpartner vor Kurzem auf Arbeitsebene getroffen.

Zum Tag des Ausbildungsplatzes vor zwei Wochen haben sich alle Partner in einer gemeinsamen Erklärung zur Ausbildung als unerlässlicher Investition in die Zukunft bekannt und zwar gerade auch in der Krise. Das macht Mut.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

unsere Aufgabe die Aufgabe der Politik ist allerdings nicht mit gutem Krisenmanagement getan. Wir müssen auch und gerade in der Krise den Blick weiter gehen lassen. Das gefundene soziale Gleichgewicht in den Arbeitsbeziehungen muss immer wieder neu ausbalanciert und an gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen angepasst werden.

Arbeit hat bei uns einen besonderen Stellenwert für jeden Einzelnen, der weit über den bloßen Broterwerb hinausgeht. Arbeit ist Leistung. Sie erfordert Einsatz. Sie ist mit Anstrengung und Mühe verbunden. Arbeit setzt Übung und Ausdauer voraus. Sie stiftet Sinn: Die Arbeit um ihrer selbst willen gut machen zu wollen, das ist ein kultureller Wert, mit dem wir uns wirtschaftlich in die Weltspitze gearbeitet haben.

Diese Kultur zeigt sich vor allem auch im Umgang mit den Arbeitenden. Es ist die zentrale Erkenntnis unseres Modells der Sozialen Marktwirtschaft, dass sich
*    eine Arbeitswelt, die für den Menschen und seine Bedürfnisse da ist
*    und wirtschaftlicher Erfolg
keineswegs ausschließen, sondern vielmehr gegenseitig bedingen.

Diese Kultur der Arbeit gilt es, beständig zu erhalten und zu erneuern.

Willy Brandt hat in den 70er Jahren ein Programm zur Humanisierung der Arbeitswelt vorgestellt. Die tief greifenden Debatten und Veränderungen, die er damals anstoßen konnte, hat jeder in seinem Alltagsleben gespürt. Seitdem sind viele neue Herausforderungen hinzugekommen: Der schnelle Takt technischer Innovationen, die immer engere weltweite Vernetzung der Wirtschaftsbeziehungen, eine sich in Altersaufbau und in den sozialen Strukturen verändernde Gesellschaft.

All dies trägt auch neue Unsicherheiten in die Arbeitsbeziehungen. Ich habe daher gemeinsam mit den Sozialpartnern und der Wissenschaft eine Initiative für eine Neue Kultur der Arbeit ins Leben gerufen. In einer Reihe von Veranstaltungen und Fachtagungen wollen wir gemeinsam die Debatte über den Wert und die Ausgestaltung guter Arbeit neu beleben. Am Ende sollen die gemeinsamen Ergebnisse in ein Aktionsprogramm für eine Neue Kultur der Arbeit münden.

Es gibt zahlreiche Aspekte der Arbeitswelt, mit denen wir uns da auseinandersetzen werden. Ich möchte jedoch mit einem Thema beginnen, das nicht im Mittelpunkt dieser Initiative steht, das aber ganz eng mit vielen Themen, die wir dort besprechen und mit der Ausgestaltung Guter Arbeit insgesamt verbunden ist. Es ist ein Thema, das in den letzten Wochen und Monaten große Wellen geschlagen hat. Es ist aber vor allem ein wichtiger Teil der Debatte um die Freiheitsrechte, die uns unser Grundgesetz seit 1949 garantiert.

Sie ahnen es: Die Rede ist vom Arbeitnehmerdatenschutz.  Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir im Alltag fast unablässig Datenspuren hinterlassen: Wenn wir Emails schreiben, im Internet surfen, vom Handy anrufen, bargeldlos bezahlen oder uns einfach an überwachten Orten aufhalten. Die Kapazitäten zur Speicherung, Verarbeitung und zum Abgleich von Daten sind fast unbegrenzt.  Den Komfort, der damit einhergeht, möchten wir nicht mehr missen. Wir wissen aber auch, dass mit den Vorteilen zugleich die Verlockung zum Missbrauch und unsere Verwundbarkeit gestiegen sind. Dennoch nehmen wir es immer öfter in Kauf nach dem Motto: Ich habe ja nichts zu verbergen. Das ist schon im Alltag gefährlich. Kontrolle und Überwachung birgt immer die Gefahr vorauseilenden Gehorsams und schränkt die Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten subtiler ein als klare Verbote. Der Datenschutz ist daher eines der drängendsten Bügerrechtsthemen unserer Zeit.

Im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses ist der Einfluss des Einzelnen auf das Sammeln von Daten und ihre anschließende Verwendung besonders gering. Denn Arbeitgeber und Arbeitnehmer begegnen sich nicht auf Augenhöhe: Der Arbeitgeber verfügt über die Arbeitsräume, die Einrichtung und technische Infrastruktur am Arbeitsplatz. Er hat das Weisungsrecht.

Der einzelne Arbeitnehmer kann der Videoüberwachung in Umkleideräumen kaum entkommen und er kann sich auch nur schwer dagegen wehren, dass von ihm angeblich zur Korruptionsbekämpfung ein Profil angelegt wird.

An die erschreckenden Grenzüberschreitungen, die in diesen Monaten in regelmäßigen Abständen bekannt geworden sind, haben wir uns indes keineswegs gewöhnt. Die meisten dieser Missstände sind natürlich auch nach geltender Rechtslage nicht in Ordnung um es vorsichtig auszudrücken.

Aber diese Rechtslage ist unübersichtlich und zum Teil lückenhaft. Regelungen verteilen sich wenig systematisch auf viele Gesetze und Verordnungen in unterschiedlichen Rechtsgebieten: das Bundesdatenschutzgesetz, das Betriebsverfassungsgesetz und Telekommunikationsgesetz oder das Gendiagnostikgesetz die Liste ist bunt und die Anwendbarkeit und Abgrenzung einzelner Vorschriften im Einzelfall nur Experten verständlich. Manche Fragen sind zum Teil noch gänzlich ungeklärt oder durch Einzelfallentscheidungen der Gerichte geprägt.

Um Bürgerrechte wirksam schützen zu können, braucht es klarere Regeln und damit mehr Rechtssicherheit. Die feine, aber wichtige Linie zwischen legitimen Informationsinteressen und nicht zu akzeptierenden Übergriffen in die Privat- oder gar Intimsphäre muss für jedermann gut erkennbar sein. Nur so können die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Rechte in der Praxis effektiv durchsetzen. Die Arbeitgeber bekommen klare Leitlinien, innerhalb derer sie sich legal bewegen können.

Deshalb haben wir in der Bundesregierung beschlossen, noch in dieser Legislaturperiode einen ersten Schritt zu gehen und zunächst eine Grundsatzregelung im Bundesdatenschutzgesetz aufzunehmen. Damit werden wir die von der Rechtsprechung erarbeiteten Grundsätze an zentraler Stelle zusammenfassen. Das allein kann aber niemanden zufrieden stellen: Das Bundesdatenschutzgesetz kann auf viele wichtige Fragen keine Antwort geben. Es ist auf die Datenverarbeitung in Dateien ausgerichtet. Überwachung kann aber ebenso in vielen anderen Formen organisiert werden, z. B. durch Detektive, die im Auftrag des Arbeitgebers Bankverbindungen, die Zinssätze des Sparbuchs oder gar Geschäfte des Lebenspartners ausspionieren. Dazu sagt das Bundesdatenschutzgesetz nichts.

Auch beim Umgang mit analogen Datensammlungen, mit Personalakten oder mit Fragen, Untersuchungen und Tests zur Einstellung hilft das Bundesdatenschutzgesetz nicht weiter. Wo es Regelungen trifft, passen sie zum Teil nicht für die spezielle Situation eines Arbeitsverhältnisses. So unterscheidet es z. B. zwischen Videoüberwachungen in öffentlichen und nichtöffentlichen Räumen. Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besteht jedoch anders als sonst in nichtöffentlichen Räumen von Arbeitsstätten wie z. B. in Toiletten oder Umkleideräumen ein besonders hohes Schutzbedürfnis. Die neue Grundsatzregelung muss also eng mit dem bestehenden Arbeitsrecht verzahnt werden. Übrigens und das ist für einen effektiven Schutz besonders wichtig auch mit den Mitwirkungsrechten der Betriebsräte.

Wir brauchen daher dringend ein einheitliches Arbeitnehmerdatenschutzgesetz, das die zahlreichen Spezialregelungen und die einzelfallorientierte Rechtsprechung zusammenfasst und bestehende Lücken schließt: An einem Ort, in klaren, für jedermann schnell auffindbaren Regelungen. Wenn man als Betroffener weiß, wo man seine Rechte nachlesen kann und diese dann auch versteht, dann verhilft das dem Recht auch zu mehr Wirkungskraft Wirkungskraft, die die bisherige Rechtslage ganz offensichtlich vermissen ließ. Gleichzeitig erleichtert es auch den Verantwortlichen in den Betrieben die Arbeit, wenn klare Grenzen gezogen werden.

Es gibt zahlreiche Aspekte, die in einem solchen Gesetz geregelt werden sollten. Einiges habe ich schon angedeutet. Ich möchte an dieser Stelle gern zwei Punkte herausgreifen, die mir besonders wichtig erscheinen:

Es ist heute aufgrund neuer Technologien möglich, Beschäftigte mit den unterschiedlichsten Hilfsmitteln zu überwachen oft mit dem erklärten Ziel der Leistungs- und Verhaltenskontrolle. Ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz muss in jedem Fall ein klares Verbot der Totalüberwachung aussprechen. Den gläsernen Mitarbeiter darf es nirgendwo geben. Das ließe vom Kern der Menschenwürde kaum etwas übrig. Der Einsatz von technischen Mitteln wie Videokameras, GPS, RFID-Chips darf nur in sehr engen Grenzen zulässig sein, wenn z. B. schwere Straftaten im Raum stehen oder erheblichen Gefahren vorgebeugt werden muss, wie an Bankschaltern oder in Kernkraftwerken.

Zweitens muss ein solches Gesetz auch die Frage der Nutzung von elektronischen Informations- und Kommunikationsmitteln also Internet und Email einheitlich regeln. Die jetzige Lage ist auch hier kompliziert: Je nachdem, ob der Arbeitgeber auch die private Nutzung gestattet, kommen ganz unterschiedliche Rechtsregime zur Anwendung: Ein weiteres Beispiel für ein Recht, das nur noch für Spezialisten und Eingeweihte durchschaubar ist. Auch hier braucht es eine klare und einheitliche Regelung.

Meine Damen und Herren,

nur eine kurze Bemerkung am Rande zu einem anderen Thema, das aber doch einen grundsätzlichen Aspekt mit dem eben Gesagten teilt:

Ich habe eben gesagt, dass Rechte, die in klare, transparentere Regelungen gefasst sind, nicht nur bürgerfreundlich sind, sondern auch erheblich mehr Wirkungskraft entfalten können.

Ich hege aus eben diesem Grund auch viel Sympathie für ein einheitliches Arbeitsvertragsgesetzbuch. Übersichtliche Regeln geben Rechtssicherheit und manchem ermöglichen sie erst die Wahrnehmung seiner Rechte. Ein solch sensibles Projekt wird allerdings nur gelingen, wenn sich die Sozialpartner an einen Tisch setzen und keiner versucht, bei der Gelegenheit lang gehegte Wünsche durch die Hintertür durchzusetzen z. B. durch eine Lockerung des Kündigungsschutzes. Unter dieser Voraussetzung würde ich einem solchen Gesetz mit Freude auf die Welt helfen.

Sehr verehrte Damen und Herren,

der Arbeitnehmerdatenschutz ist wichtig, aber er steht wie gesagt nicht im Zentrum des Prozesses, den wir unter dem Motto Neue Kultur der Arbeit angestoßen haben.

Worum geht es dann?

Es geht vor allem um die Erkenntnis: Wer heute früh mit 15 oder 16 ins Arbeitsleben einsteigt, der wird bis zu fünf Jahrzehnte arbeiten. Damit erhält das alte Sprichwort Arbeit ist das halbe Leben. eine neue Bedeutung.

Es ist gut, dass wir länger leben und auch länger leistungsfähig bleiben. Und es ist uns auch allen klar, dass wir nicht darum herum kommen werden, diese Zeit auch zu nutzen. Deshalb ist es essenziell, dass wir jetzt die Voraussetzungen schaffen, damit das auch gut klappen kann. Damit man gesund, fit und motiviert durch das Berufsleben kommt und vor allem damit man auch am Ende nicht gleichzeitig am Ende seiner körperlichen und seelischen Belastbarkeit angekommen ist. Dazu braucht es zum Beispiel ein kluges betriebliches Gesundheitsmanagement.

Wir brauchen also nicht nur altersgerechte Arbeitsbedingungen. Wir brauchen vor allem auch alternsgerechte. Denn ob wir mit Anfang 60 noch gesund und fit sind, entscheidet sich auch dadurch, ob man mit 20 gute Arbeitsbedingungen vorfindet.

Es geht doch nicht an, dass wir in Bezug auf Arbeit nur darüber reden, wann sie endlich vorbei ist: Über Feierabend, Urlaub und Ruhestand. Nicht nur die Zeit danach, sondern auch die Arbeit selbst muss gut sein. Und sie muss mit dem Rest des Lebens gut vereinbar sein. Das hilft keineswegs nur den Beschäftigten. Es gehört auch zum kleinen Einmaleins der Wirtschaftswissenschaftler, dass derjenige am erfolgreichsten ist, der in seine Beschäftigten und ihre Fähigkeiten investiert und der Bedingungen schafft, die Motivation und Gesundheit fördern.

Über die zentrale Bedeutung von Qualifizierung und Weiterbildung habe ich bereits geredet. Sie werden über den nächsten Produktivitätsschub und letztlich über unsere Wettbewerbsfähigkeit entscheiden. Motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich mit ihrem Unternehmen identifizieren und Engagement zeigen, bekommt man nur, wenn man dafür sorgt, dass Arbeit und andere Lebenszeiten nicht in Konflikt geraten. Die Veränderungen in den sozialen Beziehungen und fortschreitende technische Innovationen verlangen von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Flexibilität. Das kann aber keine Einbahnstraße sein. Deswegen möchte ich hier gern ein wichtiges Projekt vorstellen, das zur Keimzelle einer neuen Kultur der Arbeit werden kann:

Auch die Beschäftigten brauchen mehr Souveränität im Umgang mit ihrer Arbeitszeit und zwar über ihr gesamtes Arbeitsleben hinweg: Familienzeiten zur Erziehung oder zur Pflege Angehöriger, Weiterbildungszeiten oder auch ein Sabbatical, um Energie und Ideen für neue Aufgaben zu sammeln, werden weiter zunehmen.

Wir sind einen großen Schritt in die richtige Richtung gegangen und haben Lebensarbeitszeitkonten gesetzlich abgesichert.

Das Modell ermöglicht, sein Konto zu überziehen, um z. B. in jungen Jahren Zeit für die Kinder zu haben. Zeit, die man später im Berufsleben wieder auffüllen kann. Oder man kann ganz klassisch Guthaben ansparen und sie für eine Auszeit oder längere Weiterbildungen nutzen. Es ist damit erstmals möglich, über ein ganzes Arbeitsleben zu planen: Für angesparte Guthaben besteht Insolvenzschutz und auch wenn eine Übertragbarkeit zum neuen Arbeitgeber nicht möglich sein sollte, bleibt das Sparguthaben bestehen und kann bei der Rentenversicherung Bund sozusagen zwischengeparkt werden.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir können in diesen Tagen auf 60 Jahre Sozialstaat zurückblicken 60 Jahre gelebte Solidarität. Insbesondere die Zusammenarbeit und das Ringen der Sozialpartner um die besten Lösungen haben uns in dieser Zeit sozialen Frieden und Stabilität beschert, wie sie uns Deutschen anfangs kaum zugetraut wurde.

Auf diese Stärke sollten wir uns gerade in der zur Zeit schwierigen konjunkturellen Situation besinnen. Gerade jetzt hilft sie uns, das Schiff durch den Sturm zu bringen.

Mit Sozialpartnerschaft durch die Krise ist ein deutsches Erfolgsrezept. Viele beneiden uns um die pragmatischen und ausgleichenden Regelungen, die sie hervorbringt. Nutzen wir die Chance, um diese gute Tradition, um die Tarifautonomie, um Mitbestimmung und Abreitnehmerrechte zu stärken.

Vielen Dank.