Rede von Olaf Scholz auf der Tagung Perspektiven für Alleinerziehende Fachtagung im SGB II
Sehr geehrte Damen und Herren,
das Jahr 2009 ist keines für gute Nachrichten vom Arbeitsmarkt. Aktuell kämpft die Bundesregierung um den Erhalt von Opel in Deutschland. Und übermorgen werden wieder Arbeitsmarktzahlen veröffentlicht, die nicht erfreulich sein werden.
Der gute Trend des letzten Jahres ist vorerst gebrochen. Die internationale Wirtschafts- und Finanzkrise schüttelt unseren Arbeitsmarkt ordentlich durch. Die Krise im Griff zu halten, erfordert politisch wie unternehmerisch viel Kraft. Aber die Tatsache, dass wir mit Kurzarbeit mehrere Hunderttausend Jobs gerettet haben, beweist auch: Es geht! Wenn wir zusammenarbeiten, dann können wir Arbeit sichern. Aus diesem Geist des Gelingens heraus sollten wir uns um alle auf dem Arbeitsmarkt bemühen. Ganz besonders um die, die es schwer haben und die besondere Hilfe brauchen, damit sie teilhaben können.
Eine dieser Gruppen sind die Alleinerziehenden, um die wir uns auf dieser Fachtagung besonders kümmern wollen. Vor gut zwei Wochen hat der Stern eine Reportage über eine Alleinerziehende mit der Überschrift Leben am Limit betitelt. Die Verantwortung für die Kinder, der Job, der Alltag diese Gemengelage bringt schon viele Eltern in Partnerschaft ans Limit. Alleinerziehende zwingt sie dazu, eigene Grenzen zu testen, auch zu verschieben, zu überschreiten. Alleinerziehende brauchen deshalb die Unterstützung der ganzen Gesellschaft.
Aber: Die harte Analyse zeigt, dass wir da noch um einiges besser werden müssen. Deutschland fehlt die Infrastruktur, die Alleinerziehende brauchen. Das gilt insbesondere für ein ausreichendes Maß an Betreuungsangeboten. Erst wenn das gewährleistet ist, ist auch ein Einstieg ins Arbeitsleben wieder plausibel.
Sie haben dazu heute schon einiges gehört. Aber ich will einige wichtige Fakten schlaglichtartig wiederholen, weil sie ein gleißendes Licht auf die Missstände werfen:
Etwas über 40 Prozent aller Alleinerziehenden-Haushalte beziehen Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende, also Hartz IV.
2,1 Millionen Kinder leben in Alleinerziehenden-Haushalten. Von ihnen sind 800.000 von Armut bedroht.
Und das Bedrückendste: Alleinerziehende, die einmal hilfebedürftig geworden sind, kommen kaum wieder auf eigene Beine, sondern bleiben lange von Unterstützung abhängig. Alleinerziehende und ihre Kinder stellen deshalb über ein Viertel aller Arbeitslosengeld II-Empfänger.
Unsere Gesellschaft ist offensichtlich nicht in der Lage, über 600.000 jungen Männern und Frauen, allermeistens Frauen, die Gelegenheit zu eröffnen, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen und für sich und ihre Kinder selbst zu sorgen.
Die Politik und die Gesellschaft versagen da in manchen Bereichen auf der ganzen Linie. Auch die Arbeitgeber müssen für die speziellen Bedürfnisse Alleinerziehender sensibler werden und ihren Beitrag zu einer familienfreundlichen Arbeitswelt leisten.
Eine aktuelle Studie des IAB zeigt, dass insbesondere jüngere Alleinerziehende mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben: Ihre Kinder sind klein, deshalb schlägt das fehlende Betreuungsangebot besonders stark ins Kontor. Sie sind meist ledig und haben niemanden, der Unterhalt für das Kind zahlt. Sie haben oft keinen Berufsabschluss.
Von den Alleinerziehenden unter 25 Jahren haben nach 2,5 Jahren gerade einmal 43 Prozent den Leistungsbezug verlassen. Der Rest droht abgehängt zu werden. Dabei ist ein Versprechen unseres Sozialstaats, dass wir niemanden am Wegesrand zurücklassen werden. Das muss auch für Alleinerziehende gelten. Wenn wir eine menschliche und eine faire Gesellschaft wollen, dann dürfen wir nicht zulassen, dass es eine Gruppe gibt, die derart abgekoppelt ist von der Entwicklung. Ich werde das nicht gleichgültig hinnehmen.
Aus dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wissen wir:
Das Armutsrisiko von Kindern hängt stark davon ab, dass die Eltern Arbeit haben. In Haushalten, in denen niemand arbeitet, ist jedes zweite Kind von Armut bedroht (48%). In Haushalten, in denen mindestens einer arbeitet, ist es nur noch jedes zwölfte Kind (8%). Wenn man diese Ergebnisse auf die Situation der Alleinerziehenden und ihrer Kinder übersetzt, dann sieht man, was zu tun ist. Sie brauchen Chancen auf Arbeit. Das ist die Aufgabe.
Sehr geehrte Damen und Herren,
deswegen ist es gut, dass auf dieser Tagung viele Experten über die Ursachen dieses beschämenden Zustandes und über Lösungswege diskutiert haben. Weil die Ursachen vielfältig sind, gibt es auch nicht den einen Hebel, um die Arbeitsmarktchancen Alleinerziehender zu verbessern.
Was wir aber in den letzten Jahren geschafft haben, ist eine materielle Verbesserung der aktuellen Situation der Kinder gerade in Familien von Alleinerziehenden. Das ist dringend nötig, weil das Armutsrisiko hier doppelt so hoch ist, wie im Durchschnitt aller Haushalte und auch aller Paare mit Kindern.
Wir haben eine dritte Altersstufe beim Kinderregelsatz eingeführt und damit die Unterstützung der 6- bis 13-Jährigen der Realität angepasst. Wir unterstützen beim Schulanfang mit einem Schulstarterpaket von einmal jährlich 100 Euro. Und auch der einmalige Kinderbonus von 100 Euro, den es in diesem Jahr als Bestandteil der Konjunkturpakete gegeben hat, hilft Alleinerziehenden weiter. Es ist also vieles geschehen.
Wir müssen uns aber auch eingestehen, dass die Hilfesituation nach wie vor schwierig ist. Nicht wenige empfinden die Vielfalt unterschiedlicher Hilfsangebote als undurchdringliches Gestrüpp. Arbeitslosengeld II, Kinderzuschlag, Wohngeld, eine Kombination aus beidem, lohnaufstockendes Arbeitslosengeld II die Kombinationen sind bunt und vielfältig. Das sagt nichts gegen die Absicherung wenn sie materiell funktioniert. Und das tut sie. Aber wenn ein System nur unzureichend verstanden wird, dann schwindet seine Legitimität. Und das ist gefährlich.
Derzeit entscheiden manchmal wenige Euro automatisch und bei der nächsten Anhebung der Regelsätze fallen wieder ein paar Tausend mehr in die Grundsicherung und müssen sich der aufwändigen Prozedur der Beantragung unterziehen, die eigentlich gerne weiter außerhalb des Systems geblieben wären. Das kann man einfacher und klarer organisieren. Allein schon, indem man ein Wahlrecht einführen würde, ob man in die Grundsicherung geht oder sich mit Wohngeld und Kinderzuschlag behilft.
Sehr geehrte Damen und Herren,
dass die Sozialtransfers auch entsprechend der Situation in den Familien gestaltet sind, ist wichtig, aber es reicht alleine nicht aus. Es reicht nicht, mit Geld nach den Problemen zu werfen, wenn Strukturen die Ursache des Übels sind. Das lindert die Symptome, aber es geht nicht an die Ursachen der Armutsbedrohung.
Wichtiger ist, dass Chancen auf Arbeit vorhanden sind, auf gute und gut bezahlte Arbeit. Man könnte vielen Alleinerziehenden, die arbeiten gehen und trotzdem ergänzend Arbeitslosengeld II beziehen, helfen, wenn angemessene Stundenlöhne gezahlt würden. Mit Mindestlöhnen würden wir viele, die sich jetzt aufstockend an der Kante bewegen, aus der Hilfebedürftigkeit herausbekommen. Der Mindestlohn wäre somit auch als ein Programm für Alleinerziehende von nicht zu unterschätzender Wirkung.
Sehr geehrte Damen und Herren,
auch wenn es mühsam und wenig aufregend für die Öffentlichkeit ist: Wir müssen die Kärrnerarbeit für die Alleinerziehenden machen. Deswegen hat die Bundesregierung gemeinsam mit der Bundesagentur die Strategische Partnerschaft Perspektiven für Alleinerziehende ins Leben gerufen. Mit dieser Strategischen Partnerschaft wollen wir vor Ort Netzwerke schaffen, die Alleinerziehenden helfen sollen, ihre Situation grundlegend und aus eigener Kraft zu verbessern.
Denn in der Regel geht es ja nicht nur um eine bestimmte Leistungshöhe, die wir erreichen wollen, sondern um konkrete Hilfestellung, um Angebote, die Zeit schaffen und pragmatisch entlasten. Es geht darum, volle Teilhabe möglich zu machen und Alleinerziehende nicht strukturell aus der Erwerbsgesellschaft auszuschließen. Das zu organisieren, ist nicht einfach. Aber es ist wesentlich. Und Politik ist in meinen Augen dazu da, sich um das Wesentliche zu kümmern. Wer sich anstrengt, soll auch etwas davon haben. Und Alleinerziehende strengen sich wahrlich an. Wir werden deshalb auch die Betreuung Alleinerziehender durch die Bundesagentur für Arbeit weiter verbessern. Sie haben spezifische Bedarfe, deswegen brauchen sie auch spezifische Angebote.
Kernstück der Strategischen Partnerschaft ist der Ideenwettbewerb Gute Arbeit für Alleinerziehende.
Bis vor Kurzem konnten sich Grundsicherungsstellen und lokale Projekte bewerben, die gute Ideen haben, wie man Alleinerziehenden helfen kann, die Arbeitslosengeld II beziehen. Wir stellen dafür 60 Millionen Euro aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) zur Verfügung und wollen mindestens 60 Projekte fördern. Auch darüber ist hier ja heute gesprochen worden.
Wir brauchen jetzt keine Diskussion und auch keine schönen Worte oder Hochglanzpressetermine. Wir müssen jetzt ausprobieren, was geht und was nicht. Wir müssen ganz pragmatisch losziehen und nach Lösungswegen suchen, die konkret etwas bringen. Wir wollen das fördern, was funktioniert, um es dann bei Erfolg auszuweiten.
Alleinerziehende brauchen nicht unser Mitleid und auch nicht unser Bedauern. Sie brauchen unsere Hilfe. Verlässlich. Und ich muss Ihnen sagen, dass ich da aus der Perspektive des Bundesarbeitsministers mit großer Sorge auf das sehe, was in den Ländern und Kommunen heute alles passiert oder besser nicht passiert. Dass junge Alleinerziehende heute oftmals keinen oder keinen ausreichend guten Arbeitsplatz haben, liegt auch daran, dass die Betreuungsmöglichkeiten so sind, wie sie sind. Es gibt viele gut qualifizierte junge Alleinerziehende, die nur deshalb den Einstieg oder Wiedereinstieg in den Beruf nicht schaffen, weil die Infrastruktur fehlt.
Wir treffen uns hier in Berlin. Hier gibt es Kitaplätze in einem ordentlichen Umfang. Aber gehen Sie doch mal nach Westdeutschland in die Flächenländer. Wie soll eine Alleinerziehende dort überhaupt einen Job annehmen können, wenn die Chance, einen Kitaplatz zu finden ich überspitze nur leicht knapp über dem Promillebereich liegt?
Eigentlich sollte es wie folgt sein: Wenn eine Alleinerziehende einen Arbeitsplatz angeboten bekommt, dann muss sie binnen 24 Stunden auch einen Kitaplatz in ihrer Gemeinde bekommen. Da liegt die Messlatte. Über die muss jeder Bürgermeister und jeder Landrat springen. Viele große Unternehmen und auch wir als Bundesministerium haben einen so genannten Familienservice, der solche Vermittlungsleistungen übernimmt. Warum gelingt das eigentlich nicht vor Ort?
Ich will, dass wir in einem oder zwei Jahren eine Situation haben, in der jeder Leiter eines Job-Centers oder einer Arbeitsagentur einmal im Jahr vor die Presse geht und sagt, wie es ist: Ich habe hier 417 junge Frauen und vier junge Männer, die sind gut qualifiziert und wollen arbeiten. Aber sie können nicht, weil es keine Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder gibt.
Das müssen wir schaffen. Wir brauchen den Druck, damit sich etwas ändert. Ich will nicht verhehlen, dass ich mir manchen Bürgermeister und manchen Landrat gerne zur Brust nehmen würde, weil sie an der Stelle ihre Arbeit nicht ordentlich machen. Ausbaden müssen das dann die Alleinerziehenden, die so schon strukturell keine Chance auf Arbeit haben und natürlich auch der Bund, der dann bei der Finanzierung des Lebensunterhalts mit dabei ist. Manchmal ist das regelrecht organisierte Verantwortungslosigkeit, die wir da beobachten. Dass wir jetzt den massiven Ausbau der Kinderbetreuungsangebote fortsetzen, den Renate Schmidt begonnen hat, und dass wir auch einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz schaffen werden, sind Schritte in die richtige Richtung. Aber wir dürfen bei den Alleinerziehenden auch nicht bis 2013 so der Zielhorizont warten, bis sich substanziell etwas verbessert.
Konkrete Hilfe ist jetzt wichtig. Und ich erhoffe mir von den Modellprojekten viel Anregung, wie diese Hilfe aussehen könnte. Mich interessieren Kompetenzgrenzen da herzlich wenig. Ich weiß, dass wir durch die Föderalismusreform die Zusammenarbeit nicht gerade erleichtert haben aber ich bin mir sicher: Wenn erst einmal alle eingesehen haben, wie wichtig so ein 24-Stunden-Familienservice ist, dann wird er auch kommen. Es ist den Alleinerziehenden herzlich egal, ob sich denn nun der Bund, das Land oder die Kommune kümmern soll. Ich weiß, dass man da lange abstrakte und theoretische Debatten führen kann.
Aber die dienen allenfalls dazu, W3-Lehrstühle besser zu dotieren, aber sie helfen nicht einer einzigen Alleinerziehenden dabei, ihren Alltag besser zu bewältigen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
also: Wir müssen die Sozialleistungen besser organisieren. Vor allem aber müssen wir die Infrastruktur für Alleinerziehende so leistungsfähig machen, dass es für sie überhaupt vorstellbar wird, eine Arbeit anzunehmen. Dazu gehören entsprechende Unterstützungsangebote der Agentur für Arbeit und eine ausreichende Versorgung mit Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Dass das nötig ist, sollte allen klar sein. Wir brauchen jetzt die konstruktive Diskussion darüber, wie wir das am besten und am schnellsten hinbekommen.
Die heutige Konferenz war ein guter Auftakt. Auch wenn noch nicht alles so ist, wie es sein sollte und wie wir uns das wünschen, möchte ich Ihnen an dieser Stelle für Ihre Arbeit und Ihr Engagement für die Alleinerziehenden danken. Ich bin mir sicher, dass Ihre Arbeit durch den Ideenwettbewerb bereichert wird und wir viele gute Ideen vor Ort umsetzen können.
Wir bleiben dran!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit!
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26.05.2009