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06.02.2011

Olaf Scholz im Gespräch mit dem Philosophen Volker Gerhardt

 

Welt Online: Wie haben Sie sich kennengelernt?

 

Volker Gerhardt: Auf meinen Fahrten zwischen Berlin und Hamburg saß ich gelegentlich mit Olaf Scholz im selben Großraumabteil, habe jedoch nie ein Wort mit ihm gewechselt. Ich kannte ihn nur aus der Zeitung. Eines Tages, es war im Frühjahr 2007, stand er plötzlich neben mir und sagte: Sie müssen der Autor des Buches sein, das ich gerade lese. Im Klappentext steht Ihr Foto. Er hatte die "Partizipation" in der Hand, und wir haben den Rest der Fahrt über das Buch gesprochen. Kein Zweifel: Er las es wirklich und stellte kritische Nachfragen, über die wir uns zuweilen auch heute noch unterhalten.

 

Welt Online: Und, haben Sie die ganzen 478 Seiten gelesen?

 

Olaf Scholz: Wenn es denn so viele Seiten waren, ja. Ich fand es faszinierend, ein Buch zu lesen, das jene Fragestellungen an die Philosophie behandelt, die einen Politiker umtreiben könnten. Ein sehr erwachsenes Werk. Ich weiß nicht, ob ich das Buch mit 22 Jahren genauso gut gefunden hätte.

 

Welt Online: Sie meinen der linke Juso in Ihnen, der Sie damals waren?

 

Scholz: Wahrscheinlich. In jüngeren Jahren neigt man dazu, eine realistische Sicht auf die Welt nicht zufriedenstellend zu finden. Heute erscheinen mir die reifen Gedanken des Buches über das Durchdringen von Demokratie und Beteiligung einleuchtend und spannend. Auch wenn es natürlich keine Lektüre für den Kaffeetisch ist.

 

Welt Online: Macht Sie derlei Zuspruch stolz?

 

Gerhardt: Gewiss. Mit 22 hätte ich das Buch auch nicht so geschrieben. Nach langen Erfahrungen in der Hochschul- und Wissenschaftspolitik war es mein Ehrgeiz, den Text so anzulegen, dass er von jedem interessierten Bürger verstanden werden kann. Kurz nach dem Gespräch mit Olaf Scholz kam übrigens ein Brief von einem Philosophiestudenten aus München, der berichtete, er habe das Buch nach einigem Zögern gekauft, obgleich er erst Student im zweiten Semester sei. Aber nach der Lektüre könne er sagen, ... und es folgte ein Lob, das mich noch heute erfreut. Dieser Student der Philosophie war Erwin Teufel, der sich nach seiner bewundernswerten Zeit als Ministerpräsident in Baden-Württemberg als Philosophiestudent in München eingeschrieben hatte.

 

Welt Online: Teufel studierte damals bei den Jesuiten in München. Sie sind Sozialdemokrat, erschreckt Sie der Zuspruch eines Konservativen?

 

Gerhardt: Nein. Im Denken gibt es, wenn ich die Formel gebrauchen darf, nur Parteilichkeit für die Vernunft. Die Mitgliedschaft in der SPD folgt aus sozialem Gewissen, steht aber unter dem Vorbehalt, dass ich der Parteipolitik grundsätzlich zustimmen kann. Als ich Anfang der 90er-Jahre den Eindruck hatte, dass der Einfluss von Oskar Lafontaine, trotz mit Recht verlorener Bundestagswahl, unverändert war, bin ich ausgetreten. Aber Hans-Jochen Vogel hat mir in einem persönlichen Gespräch dargelegt, dass meine Argumente nicht für einen Austritt, sondern für eine kritische Mitwirkung sprechen. Das hat mir natürlich geschmeichelt, und ich bin wieder eingetreten. An Vogels Rat halte ich mich bis heute.

 

Welt Online: Sie stecken mitten im Wahlkampf: Hilft Theorie beim operativen Geschäft?

 

Scholz: Nun, es schadet nicht, grundsätzlicher nachzudenken. Bei mir ist es auch eine persönliche Schwäche. Schon als Schüler habe ich mit großer Begeisterung Philosophie belegt. In einem der Semester der Oberstufe hatte ich sogar parallel zwei Philosophie-Kurse, weil ich unbedingt an beiden teilnehmen wollte. Dieses Interesse hielt ein ganzes Leben lang. Ich würde mich als interessierten Laien und als einen eklektizistischen Leser von philosophischer Literatur betrachten. Es hilft mir, die Menschen, die Welt und das, was ich tue, zu verstehen.

 

Welt Online: Was lesen Sie gerade?

 

Scholz: Vermerke über Haushaltskonsolidierung.

 

Welt Online: Klingt weniger vergnüglich. Ihr Lieblingsphilosoph Gerhardt hat bei einem Kongress der FDP die von-der-leyensche Regelsatzerhöhung um fünf Euro für richtig erklärt - mit der Begründung: Soziale Kälte liege darin, dem Menschen nicht zu helfen, seine Lage aus eigener Kraft zu verbessern. Sind Sie schockiert?

 

Scholz: Zur Sache: Bei der Berechnung des Regelsatzes hat die Bundesregierung die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht beachtet. Deshalb wird der Regelsatz sicher stärker steigen als bisher geplant. Im Übrigen bin ich der Auffassung, dass wir alles dafür tun müssen, diejenigen, die lange ohne Arbeit sind, wieder in die Arbeitswelt zu integrieren. Das ist das Konzept des aktivierenden Sozialstaats. Es ist deshalb falsch, wenn die Bundesregierung jetzt die Mittel zur Integration Langzeitarbeitsloser milliardenschwer zusammenstreicht. Und es ist unredlich, wenn sie sich zur Begründung solcher Schritte der Rhetorik des aktivierenden Sozialstaats bedient. Sie tut das Gegenteil. Und auch das Gegenteil von dem, was Professor Gerhardt meint.

 

Welt Online: Gerhard Schröder denunzierte im Wahlkampf 2005 den Verfassungsrechtler Paul Kirchhof als "Professor aus Heidelberg". Ein Akt der Geistesfeindlichkeit wie Straußens "Ratten und Schmeißfliegen"?

 

Scholz: Das war Wahlkampf, und Schröder musste die Realitätsferne und die unsozialen Elemente der Vorschläge von Professor Kirchhof thematisieren.

 

Gerhardt: Ich würde das eher dem herben Charme von Gerhard Schröder zurechnen. Er redete so auch im persönlichen Umgang mit Professoren, Dichtern und der hohen Geistlichkeit. Bei einem Vorgespräch zur Gründung des Nationalen Ethikrats im März 2001 saßen wir mit etwa zwanzig Personen um eine festliche gedeckte Tafel in einer Grunewald-Villa und berieten die Aufgaben des neuen Gremiums. Da wandte Schröder sich in abrupter Vertraulichkeit an den neben ihm sitzenden Kardinal Lehmann: "Was sagt denn der Kirchenfürst dazu?" Das ist Hemdsärmeligkeit im Maßanzug, aber kein Anti-Intellektualismus.

 

Welt Online: Früher, so heißt es, waren mehr Professoren und Intellektuelle in der Politik. Vermissen Sie die?

 

Scholz: Wenn ein Sozialdemokrat kandidierte mit einem Professoren- oder Doktortitel, dann wurde das immer noch erwähnt: unser Doktor, unser Professor.

 

Gerhardt: Seit 68 hat sich das geändert ...

 

Scholz: ... gelockert. Aber wir sind eine Volkspartei mit vielen Mitgliedern mit und ohne Hochschulabschluss. Ein Problem aller Parteien: Die akademisch gebildeten Mittelschichten machen gerade mal 20 Prozent unserer Bevölkerung aus. Sie sitzen in Verbänden, in Parteien, im Bundestag und in den Redaktionsstuben und glauben, sie sind der Rest der Welt. Das ist falsch und gefährlich.

 

Welt Online: Wollen Sie denn mehr Bauarbeiter und Telefonistinnen in die Partei holen? Und wie wollen Sie diesen fleißigen Menschen die Parteifron schmackhaft machen?

 

Scholz: Das ist keine Fron. Wer in einer Partei mitarbeitet, engagiert sich für die Demokratie. Ob als Bauarbeiter oder als Professor.

 

Welt Online: Kulturpessimisten behaupten, dass mit dem Exodus der Intellektuellen aus den Parteien die rhetorische Qualität der Debatten rapide abnahm. Stimmt das?

 

Scholz: Ich war früher nicht dabei, das macht die Beurteilung etwas schwierig.

 

Welt Online: Aber es gibt jede Menge Dokumente.

 

Scholz: Das sind Zusammenfassungen von Höhepunkten. Ich habe auch manche Rede nachgelesen, die großen Eindruck gemacht hat, aber das war nicht immer ein Vergnügen. Da war manches unkonzentriert und zusammenhangsarm. Meine Vorstellung, wie man agieren soll, wird von Helmut Schmidt geprägt. Der forderte stets eine Begründung seines Tuns, die sich nicht auf den eigenen Referenzkreis beschränkt, sondern sich auf die ganze Öffentlichkeit bezieht.

 

Welt Online: Deshalb war er nicht nur beliebt in der SPD.

 

Scholz: Mag sein. Aber Debatten mit ihm haben nie etwas Insidermäßiges und Hermetisches.

 

Welt Online: In seinen Memoiren macht Joschka Fischer auch mangelnde Vermittlung der Hartz-IV-Reformen für das Scheitern von Rot-Grün mitverantwortlich.

 

Scholz: Damit hat er zum Teil recht. Vor allem müssen wir Gerechtigkeit klar definieren. Das, was wir vorschlagen, muss immer richtig für denjenigen sein, der sich anstrengt. Und der sagt: Wenn ich alles richtig mache, muss ich auch klarkommen. Dessen Gerechtigkeit muss für uns Maßstab für politisches Handeln sein. Es wäre folgerichtig gewesen, Arbeitsmarktreformen und Mindestlöhne zusammen einzuführen.

 

Gerhardt: Aus der Sicht eines Außenstehenden hat Olaf Scholz in beispielhafter Weise Verantwortung für die Reformen übernommen, ohne die wir die Finanzkrise niemals so gut überstanden hätten. Er hat auf das Amt des Generalsekretärs verzichtet, obgleich er doch wissen konnte, in der Sache nichts falsch gemacht zu haben. Das hat mir imponiert und prägt mein Urteil über Olaf Scholz bis heute.

 

Welt Online: Wie diskussionsfeindlich die Politik sein kann, zeigte sich an der Debatte um Thilo Sarrazins Buch. Das wurde von der Kanzlerin und dem Bundespräsidenten verrissen, bevor sie es gelesen hatten.

 

Scholz: Ich habe es gelesen. Die Theorien zur Bedeutung der Herkunft in unserer Gesellschaft haben mir nicht gefallen. Und die richtigen Vorschläge des Buches, von bezahlbaren Kindergärten bis zu Ganztagsschulen, sind durch die Diskussion leider nicht vorangebracht worden.

 

Gerhardt: Ich habe im Herbst auf dem Freiheitskongress der FDP einen Vortrag über Selbstbestimmung gehalten und dabei einmal mehr die bioethische Mehrheitsmeinung in der SPD kritisiert. Vor mir, in der ersten Reihe, saß Wolfgang Clement, während sich draußen die SPD über Sarrazin ereiferte. Da habe ich spontan meine oft geäußerte Kritik an der eigenen Partei mit der Bemerkung abgeschlossen: Ich sage das als noch nicht ausgeschlossenes SPD-Mitglied. Das war kein Bekenntnis zu Sarrazins Buch, aber ein Votum für mehr Offenheit gegenüber abweichenden Meinungen in einer Partei. Thilo Sarrazin ist ein tüchtiger Finanzsenator in Berlin gewesen. Er war hart, aber fair und hatte einen Sinn für die besonderen Erfordernisse der Wissenschaft. Seine Lust an provozierenden Äußerungen ist seit Langem bekannt. Er durchbricht den auf Denkverbote gegründeten Konsens der Political Correctness, auch auf die Gefahr hin, dass er sich in einigen Punkten irrt. Dafür muss man ihm dankbar sein. Wenn da eine Partei gleich an Ausschluss denkt, steht sie mental im Zeitalter des Absolutismus.

 

Welt Online: Sarrazin hat viele Fehler ja schon korrigiert in den neuen Auflagen.

 

Gerhardt: Die Debatte über Migrationsprobleme hat sich, dank Sarrazin, enorm belebt. Ihre Lösung, die ich für möglich halte, wird über die Zukunftsfähigkeit Europas erscheinen.

Welt Online: Herr Scholz, wollen Sie Sarrazin rausschmeißen aus der SPD?

 

Scholz: Der Parteivorstand hat einen entsprechenden Antrag gestellt. Wir haben ein laufendes Verfahren. Alle sind gehalten, während des Verfahrens öffentlich zu schweigen. Das tue ich.

 

Welt Online: Hamburg ist das Epizentrum einer bürgerlichen SPD: Politiker wie Helmut Schmidt, Henning Voscherau und Klaus von Dohnanyi stehen dafür. Was spricht vor diesem Hintergrund für eine Wiederaufnahme des Sozialliberalismus in der Heimatstadt eines liberalen Denkers wie Ralf Dahrendorf?

 

Scholz: Es stimmt, dass in Hamburg SPD-Bürgermeister oft auch von jenen gewählt wurden, die sonst CDU oder FDP wählen. In dieser Tradition stehe auch ich. Wenn man den Umfragen glauben darf, gibt es einige Unions- oder FDP-Wähler, die sich diesmal für die SPD entscheiden werden. Angesichts des Zustandes der FDP im Bund wie auch in Hamburg, ist es nicht nur unwahrscheinlich, dass die die Bürgerschaft erreichen, sondern man kann auch mit gutem Ernst sagen: Die Hamburger SPD ist die Alleinerbin der sozialliberalen Tradition der Stadt.

 

Welt Online: Aber eigentlich ist die SPD im Augenblick vor allem eine Partei, die Quoten einführen will, den Arbeitsmarkt regulieren und Steuern erhöhen. Nicht sonderlich liberal, oder?

 

Scholz: Die sozialliberale FDP der 70er-Jahre hätte die Frauenquote in Aufsichtsräten begrüßt.

 

Gerhardt: Der größte Vorzug der Demokratie ist, dass sie einen regelmäßigen Machtwechsel ermöglicht. Und am besten ist sie, wenn sie zu klaren Regierungsmehrheiten führt. Deshalb setze ich auf die absolute Mehrheit der SPD in Hamburg. Das wäre eine Chance auch für die bundespolitische Erneuerung der Partei - und zwar unter Realbedingungen des politischen Handelns. Die Grünen haben in Hamburg ihre Chance gehabt und haben sie leichtfertig vertan. Ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand, der wirklich an der Zukunft Hamburgs interessiert ist, nach dem Fiasko in der Schul-, Finanz-, Verkehrs-, Wissenschafts- und Kulturpolitik die Grünen noch einmal wählt. Die CDU hat noch nicht einmal die vordringliche Elbvertiefung durchsetzen können. Sie ist verbraucht. Also käme die FDP, wenn sie den Sprung in die Bürgerschaft schafft, als Koalitionspartner durchaus in Betracht. Auch für diese Partei wäre das eine Möglichkeit, der dringend erforderlichen bundespolitischen Erneuerung einen realpolitischen Impuls zu geben. Politik ist auf Freiheit und auf Gerechtigkeit gegründet. Wenn die Wirklichkeit nicht so wäre, wie sie ist, müssten sozial-liberale Koalitionen eigentlich das demokratische Traumpaar sein.

 

 

Hier finden Sie das Interview auf Internetseite der Welt am Sonntag.