Herr Bundeskanzler, erst Joe Bidens Aussetzer, dann das Attentat auf Donald Trump: Der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf überschattet die Weltpolitik. Welche Gefahren sehen Sie darin für Deutschland?
Die USA sind die Weltmacht Nummer eins und unser wichtigster Bündnispartner – alles, was dort passiert, ist für uns wichtig. Wir sehen, dass in Amerika die Unsicherheit wächst – wie übrigens in vielen wohlhabenden Gesellschaften des Nordens. Die Unsicherheit darüber, wie die Zukunft wird. Das führt zu Spannungen in den Gesellschaften. Das beste Mittel gegen gesellschaftliche Spaltung ist es, dafür Sorge zu tragen, dass wir eine gute Zukunft vor uns haben. Wir brauchen Zuversicht.
Donald Trump liegt in den Umfragen vorn und könnte die Wahl gewinnen. Reicht da Zuversicht oder bereiten Sie sich auch auf eine zweite Trump-Präsidentschaft vor?
Regierungswechsel gehören zur Demokratie. Insofern bereiten wir uns selbstverständlich auf alle Eventualitäten vor, aber sprechen natürlich öffentlich nicht über das Wie. Deutschland pflegt enge Beziehungen zu den USA – politisch, wirtschaftlich und kulturell. Wir sind über gemeinsame Werte verbunden und haben eine lange Freundschaft. Dieses Fundament sollte niemand unterschätzen.
Trägt dieses Fundament auch dann noch, wenn Trump wieder Präsident würde?
Darum würden wir uns dann nach Kräften bemühen. Erlauben Sie mir aber bitte den Hinweis, dass die US-Wahl längst nicht entschieden ist. Erstmal müssen die amerikanischen Wählerinnen und Wähler im November abstimmen – das ist noch mehr als drei Monate hin, in der Politik ist das eine lange Zeit.
Falls Trump wieder an die Macht kommt, dürfte die internationale Lage noch schwieriger werden. Fühlen Sie sich imstande, die Rolle zu übernehmen, die der damalige US-Präsident Obama Ihrer Vorgängerin Angela Merkel auftrug: Anführer der freien Welt zu sein?
Deutschland ist das größte und wirtschaftlich stärkste Land Europas, daraus erwächst eine Verantwortung. Diese Verantwortung werden wir tragen, auch ich als Kanzler werde das tun. Im Mittelpunkt steht für mich dabei die Europäische Union mit ihren 27 Mitgliedsländern. Die EU gibt uns in einer Welt mit heute acht und bald zehn Milliarden Einwohnern die Möglichkeit, Demokratie, Rechtsstaat und soziale Marktwirtschaft zu garantieren. Wir dürfen aber nicht naiv sein: Die Gewichte in der Welt verschieben sich. Es geht längst nicht mehr nur um die klassischen Player, also die USA, Europa, Russland und China. In Zukunft wird es weitere einflussreiche Länder geben: Brasilien, Südafrika, Nigeria, Indien, Indonesien und andere arabische und asiatische Staaten. Seit Beginn meiner Kanzlerschaft ist es mir ein wichtiges Anliegen, deren Interessen stärker in den Blick zu nehmen – und gute Beziehungen zu etablieren.
Wenn Deutschland dieser Entwicklung gerecht werden muss, was erwarten Sie von den Bürgern?
Wir müssen uns darüber bewusst sein, dass es nicht gemütlicher werden wird in der Welt. Ich habe den Eindruck: Das sehen die meisten Bürgerinnen und Bürger sehr klar. Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat nicht nur unendliches Leid über die Ukraine gebracht, sondern auch gezeigt, dass wir uns nicht mehr auf internationale Vereinbarungen verlassen können, die über Jahrzehnte gegolten haben.
Welche meinen Sie?
Putin hat die Verständigung aufgekündigt, dass Grenzen nicht mit Gewalt verschoben werden. Als Konsequenz müssen wir in Deutschland mehr für unsere Verteidigung und unsere Sicherheit tun.
Auf dem Nato-Gipfel in Washington haben Sie mit US-Präsident Biden die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland vereinbart. Zu Ihren Juso-Zeiten haben Sie noch gegen den Nato-Doppelbeschluss protestiert. Warum ist heute richtig, was Sie damals für falsch hielten?
Die Welt hat sich seither massiv verändert. Wir haben es mit einem immer aggressiveren Russland zu tun, das nicht davor zurückschreckt, seine Nachbarn zu bedrohen oder, wie im Falle der Ukraine, anzugreifen. Putin hat viele relevante Rüstungskontrollvereinbarungen aufgekündigt und deutlich aufgerüstet. All das gefährdet die internationale Sicherheit. Deshalb reagieren wir. Wir müssen stark genug sein, dass Russland uns und das Nato-Territorium nicht angreift.
Hat Boris Pistorius also Recht, wenn er sagt, dass wir „kriegstüchtig“ werden müssen?
Boris Pistorius hat Recht, dass wir mehr für unsere Sicherheit aufwenden müssen. Dazu gehört insbesondere eine bessere Luftverteidigung, in die wir gerade massiv investieren. Neben solchen defensiven Vorkehrungen brauchen wir aber auch die Fähigkeit, Gegner vor einem Angriff abzuschrecken.
Können Sie verstehen, dass solche Aussagen bei manchen Menschen Angst auslösen?
Solche Sorgen sind verständlich. Alles, was wir tun, dient aber dazu, Krieg zu vermeiden. Wenn wir die Bundeswehr besser ausstatten und nun dauerhaft mindestens zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgeben, erhöht es die Sicherheit Deutschlands. Mehr Rüstungskontrolle würde im Übrigen auch unsere Sicherheit erhöhen. Leider hat sich Russland von diesen Vereinbarungen verabschiedet und massiv aufgerüstet. Darauf müssen wir reagieren, um nicht verwundbar zu werden. Wenn es auch gerade nicht auf der Tagesordnung steht, sollten wir das Thema Rüstungskontrolle aber nie aus dem Blick verlieren.
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass deutsche Söhne und Töchter künftig wieder in einen Krieg ziehen müssen?
Meine ganze Politik dient dem Ziel, das zu verhindern.
Putins Regime führt doch längst einen hybriden Krieg gegen Deutschland. Vor wenigen Tagen ist ein mutmaßliches Mordkomplott gegen Rheinmetall-Chef Papperger bekannt geworden. Helfershelfer russischer Agenten können immer noch mit Touristenvisa einreisen. Warum verhindert Ihre Regierung das nicht?
Ohne auf Details einzugehen, kann ich sagen: Unsere Sicherheitsbehörden sind sehr wachsam und haben die Aktivitäten ausländischer Akteure in Deutschland im Blick.
Der Kreml versucht die deutsche Gesellschaft zu verunsichern und aufzuwiegeln, indem er Desinformationen in den sozialen Medien verbreitet. Warum tun Sie mit Ihrer Regierung nicht mehr gegen diese Lügen?
Die Bundesregierung hat unlängst eine Taskforce gegen Desinformation geschaffen. Auf europäischer Ebene ist klar: Digitalunternehmen sind für ihre Plattformen verantwortlich. Sie müssen Fake-Accounts blockieren und Fake-News löschen. Verlässliche Informationen sind unerlässlich für ein demokratisches Staatswesen. Es geht um Fakten – nicht um alternative Fakten. Deswegen ist es wichtig, dass sich die Bürgerinnen und Bürger darum bemühen, sich aus seriösen Quellen zu informieren.
Warum drehen Sie den Spieß nicht um? So wie es im Kalten Krieg Radio Free Europe gab, könnten westliche Länder wie Deutschland doch versuchen, im russischen Internet wahrhaftige Nachrichten über den Krieg in der Ukraine zu verbreiten.
Ich vermute, Sie geben mir recht, wenn ich sage: Das wäre wohl eher die Aufgabe unabhängiger Medien.
Ist der Mehrwert der sozialen Medien kleiner als die Gefahr, die von ihnen ausgeht?
Die sozialen Medien haben einen Mehrwert, davon bin ich überzeugt. Aber sie bringen auch neue Herausforderungen mit sich. Die größte Gefahr liegt aus meiner Sicht in der Rückkehr des Vorurteils.
Das müssen Sie erklären.
Nutzer werden ständig mit Informationen versorgt, die nur die eigenen Positionen und Vorurteile verstärken. Ich fände es wünschenswerter, wenn man in den sozialen Medien auch Informationen erhält, die die eigene Meinung auch mal infrage stellt, um zu erkennen: Es gibt Menschen, die zwar andere Meinungen haben als ich, aber trotzdem nett sind. Wir müssen unbedingt verhindern, dass eine solch konstruktive Sicht auf die Welt zerstört wird. Und wir brauchen ein neues Verständnis dafür, was Quatsch ist. Wir müssen neu lernen, nicht alles zu glauben, was irgendwo geschrieben steht. Früher war es so, wenn einer im Betrieb, in der Kneipe oder im Sportverein Mist erzählt hat, haben die Kolleginnen und Freunde gesagt: „Ey, das ist doch Quatsch.“ Heute geht er ins Netz, findet eine Handvoll Gleichgesinnte und glaubt, er sei im Recht. Aber es bleibt Quatsch!
Verlieren die klassischen Medien Ihrer Meinung nach an Bedeutung?
Aus meiner Sicht wird die Rolle klassischer Medien wieder wichtiger: Sie sind die Fachleute dafür, zu recherchieren, ob eine Information richtig oder falsch ist. Und das heißt, wenn Sie mir diese vorsichtige Kritik erlauben, die Medien müssen heute in dieser Hinsicht viel besser sein als jemals zuvor, um sich im Wettbewerb mit unbezahltem Content zu behaupten.
Kann man auch von Jugendlichen erwarten, dass sie zwischen Quatsch und kein Quatsch oder zwischen richtig und falsch unterscheiden?
Jeder und jede braucht Zeit, sein Urteilsvermögen zu entwickeln. In der heutigen Welt ist das wichtiger denn je. Der Staat kann einiges gegen Falschinformationen unternehmen, aber am Ende kommt es auf auf jeden und jede selbst an. Dass wir in der Lage sind, die Welt, in der wir leben und in der ganz schön viel rumerzählt wird, klar zu beurteilen und uns ein vernünftiges Bild davon zu machen, was stimmt und was nicht. Wir müssen nicht alles glauben, was wir so sehen, hören oder lesen.
Die Kommunikation Ihrer Koalition klingt oft nicht weniger wild als eine Debatte auf X oder Facebook. Warum streiten Sie sich ständig öffentlich, statt die Konflikte vertrauensvoll zu lösen und dann darüber zu reden?
Lassen Sie mich zwei Aspekte nennen, einen davon durchaus selbstkritisch: Die Zeiten, in denen wir leben, sind unsicher. Es tobt gerade ein erbarmungsloser Krieg in Europa, die Folgen des Klimawandels treiben uns um und die Corona-Pandemie steckt uns auch noch in den Klamotten. Die Bürgerinnen und Bürger haben viele Fragen und Sorgen, und erwarten von der Regierung Antworten. Die Bundesregierung ist die Probleme beherzt angegangen und hat viel auf den Weg gebracht, was unser Land stärker machen wird – auch wenn sich einige Entscheidungen erst in Zukunft auswirken werden. Solche Zeiten der Unsicherheit nutzen Populisten gerne, um daraus politischen Profit zu schlagen, indem sie die Vergangenheit verklären und vor der Zukunft Angst machen. Und sie suchen nach Feinden im Äußeren, was oft zu Nationalismus führt. Oder sie suchen nach Feinden im Inneren, gegen man mobilisieren kann – das spaltet ein Land.
Und wo bleibt die Selbstkritik?
Selbstkritisch sage ich, dass es in solchen Zeiten der Unsicherheit wichtig wäre, mehr Kommunikationsdisziplin zu zeigen und nicht ständig durcheinander, übereinander oder gegeneinander zu reden. Ganz wird sich das nicht vermeiden lassen, weil die Koalition aus drei Parteien besteht, die sehr unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen repräsentieren. Bei den Haushaltsverhandlungen hat es aber ganz gut geklappt, deshalb habe ich die Hoffnung, dass uns das in Zukunft auch häufiger gelingt.
Wie lief das ab bei den Haushaltsgesprächen mit Christian Lindner und Robert Habeck? Sie haben sich 23 Mal getroffen, mehr als 80 Stunden lang verhandelt. Gab es dabei Momente, in denen Ihnen der Kragen geplatzt ist?
Ich bin nicht der Typ, dem der Kragen platzt.
Sondern?
Ich bleibe freundlich, aber sage an gewissen Punkten: Bis hierher und nicht weiter.
Vielen Menschen hat der lange Haushaltsstreit den Eindruck vermittelt, Ihre Koalition habe gar kein gemeinsames Ziel mehr. Können Sie nicht führen oder ist dieses Bündnis unführbar?
Ein Haushalt kann nie groß genug sein, um alle Wünsche zu erfüllen. Nicht einmal der Haushalt der Bundesrepublik Deutschland. Trotzdem muss der Haushalt den zentralen Anforderungen der Bürgerinnen und Bürger gerecht werden. Unter meiner Führung ist es gelungen, diese schwierigen Haushaltsverhandlungen erfolgreich abzuschließen, ohne dass die vielen Ziele, die wir erfüllen müssen, gegeneinander ausgespielt worden sind. Das finde ich schon eine Leistung.
Dem aktuellen Politbarometer zufolge glauben aber nur noch sieben Prozent der Befragten, dass die Zusammenarbeit zwischen SPD, Grünen und FDP nach der Haushaltseinigung besser wird. Sie haben von der Zeitenwende gesprochen – offenkundig nimmt Ihnen die Mehrheit der Bürger aber nicht mehr ab, dass es Ihnen ernst damit ist.
Diesem Eindruck möchte ich widersprechen: Meine Regierung hat mehr angepackt als alle Regierungen in den 20 Jahren vor uns. Leider haben wir darüber in der Koalition aber oft so leidenschaftlich gestritten, dass vor lauter öffentlichem Streit die eigentlichen Entscheidungen hinter dem Pulverdampf verborgen geblieben sind.
Der Pulverdampf aus den Pistolen Ihrer Ampelkoalitionäre.
Ich hoffe jedenfalls, dass der Blick nun frei wird auf all das, was die Koalition für die Zukunft unseres Landes auf den Weg gebracht hat: Den Ausbau von Solarenergie und Windkraft zum Beispiel, die Pläne für die Wasserstoff-Wirtschaft, den Bürokratieabbau, mit dem wir Planungen beschleunigen und Genehmigungen erleichtern. Die Anhebung des Mindestlohns, die Stärkung von Tariflöhnen und die Digitalisierung der Verwaltung. Da ist also eine Menge passiert in den vergangenen 2,5 Jahren. Nehmen Sie die Investitionen in Infrastruktur: Die wurden jahrelang verschleppt! Aber jetzt findet da richtig was statt. Das sichtbarste Beispiel kriegen nun viele Reisende mit: Die Riedbahn-Strecke zwischen Mannheim und Frankfurt wird mehrere Monate lang voll gesperrt, damit endlich, endlich die Grundsanierung stattfinden kann. Das ist ein hoch symbolisches Zeichen dafür, dass wir nicht nur von Erneuerung reden, um doch nur ein bisschen am Bestand herumzuflicken – nein, wir packen die Probleme richtig an und lösen sie von Grund auf. Das ist kurzfristig ungemütlich, zahlt sich aber langfristig aus fürs Land.
Was halten Sie von Friedrich Merz' Vorschlag, das Angebot der Bahn zu reduzieren?
Da es CDU und CSU zu verantworten haben, dass die Bahninfrastruktur so schlecht ist, ist es nur konsequent zu sagen: Dann sollen eben weniger Züge auf den maroden Schienen fahren, die wir nie saniert haben. Von seiner Idee halte ich aber nichts. Und ich glaube auch nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger das gut fänden.
Erzählen Sie uns zum Schluss ein bisschen von sich: Sie haben einen proppenvollen Arbeitstag, sind ständig auf Achse. Wie kriegen Sie den Kopf frei?
Ich lese gern. Derzeit „Die große Arbeiterlosigkeit“ von Sebastian Dettmers. Ein wirklich gutes Buch. Es beschreibt, warum eine schrumpfende Bevölkerung unseren Wohlstand bedroht und was wir dagegen tun können.
Und sonst?
Ich gehe zwei bis drei Mal die Woche joggen.
Und dabei denken Sie über politische Fragen nach?
Nein, dabei denke ich gar nicht. Nur laufen. Das entspannt mich. Und manchmal rudere ich auch.
Auf der Elbe oder der Alster?
Öfter auf der Alster und mitunter auch auf einem Rudergerät, zum Beispiel hier im Kanzleramt, wenn sich kurzfristig eine Lücke im Kalender auftut.
Letzte Frage: Was schätzen Sie an Friedrich Merz?
Er hat die CDU hinter sich vereint. Das ist gut, auch für die Demokratie in unserem Land. Ich habe gern eine starke Opposition.
Herr Bundeskanzler, vielen Dank für das Gespräch.