Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrte Repräsentanten des Bundes und der Länder,
Exzellenzen,
liebe Angehörige der Stiftung 20. Juli 1944,
meine sehr geehrten Damen und Herren!
„Wir würden es verdienen, in alle Welt verstreut zu werden, wie der Staub vor dem Winde, wenn wir uns in dieser zwölften Stunde nicht aufrafften und endlich den Mut aufbrächten, der uns seither gefehlt hat. Verbergt nicht eure Feigheit unter dem Deckmantel der Klugheit. Denn mit jedem Tag, da ihr noch zögert, da ihr dieser Ausgeburt der Hölle nicht widersteht, wächst eure Schuld.“ Diesen verzweifelten Ruf, diese Anklage, diese Aufforderung fanden im Sommer 1942 einige Hundert zufällig ausgesuchte Empfänger im Raum München in ihrer Post. Absender: Die Weiße Rose.
Das Risiko, das die Mitglieder der Weißen Rose bereits mit dem Verschicken solcher Briefe eingingen, war immens. Feindbegünstigung, Wehrkraftzersetzung, Hochverrat – das gesetzgewordene Unrecht der Nazi-Diktatur hatte zahllose Werkzeuge, die alle dem gleichen Ziel dienten: jeden Gedanken an Widerstand von vornherein abzuschrecken, jedes widerständige Handeln mit größtmöglicher Brutalität zu bestrafen. Die Mitglieder der Weißen Rose wussten, was ihnen für diese Briefe drohte. Sie starben 1943, ermordet von der gleichgeschalteten NS-Justiz. Sie hatten sich entschieden, ihr Leben zu riskieren für ein höheres Ziel, für den – wie es im sechsten und letzten Flugblatt der Weißen Rose hieß – „Aufbruch gegen die Verknechtung Europas durch den Nationalsozialismus, im neuen gläubigen Durchbruch von Freiheit und Ehre“. Der Text dieses letzten Flugblatts wurde ins Ausland geschmuggelt. Er gelangte über Skandinavien nach Großbritannien, wurde dort hunderttausendfach vervielfältigt und im Sommer 1943 von Flugzeugen der Alliierten über Deutschland abgeworfen. Als die meisten ihrer Mitglieder schon ermordet waren, wurden die Weiße Rose und ihre Botschaft damit in der deutschen Bevölkerung doch noch weithin bekannt. Verantwortlich für den Schmuggel des Flugblatts war der Begründer des Kreisauer Kreises: Helmut James Graf von Moltke – später zum Tode verurteilt wegen seiner Planungen für ein Deutschland nach Hitler, ermordet in Plötzensee am 23. Januar 1945.
Wir sind heute zusammengekommen an diesem 80. Jahrestag des Umsturzversuches gegen Adolf Hitler, um den deutschen Widerstand in seiner Gesamtheit zu ehren, um den Mut jedes und jeder Einzelnen zu würdigen, sich dem nationalsozialistischen Unrechtsregime zu widersetzen – und um auch 80 Jahre danach das wichtige Gespräch darüber weiterzuführen, was vom deutschen Widerstand bleibt. Denn das bleibt eine zentrale Sinnfrage unseres Landes, gerade auch heute, in dieser unruhigen Zeit, in der Sicherheit und Frieden in Europa gefährdet sind.
Welche Linien verlaufen also zwischen den so unterschiedlichen Mitgliedern des Widerstands? Was brachte Bürgerinnen und Bürger unterschiedlichster politischer und religiöser Überzeugungen dazu, sich gegen die Diktatur des Bösen aufzulehnen – Männer und Frauen, Soldaten und Zivilisten, Christen und Atheisten, Sozialdemokraten, Kommunisten und Liberale, Gewerkschafter und Unternehmer? Was verband die, deren Namen wir kennen, mit den stillen Helden, deren Identitäten nicht überliefert sind, nach denen keine Straßen und Plätze benannt wurden? Sie alle handelten nach ihrem Gewissen.
„Wir haben uns vor Gott und unserem Gewissen geprüft – es muss geschehen“, so formulierte es Claus Schenk Graf von Stauffenberg wenige Tage vor dem 20. Juli 1944. Und sie handelten im Glauben an die Bedeutung des eigenen Beitrags. Die Mitglieder der Weißen Rose verfassten ihre Flugblätter im Glauben daran, dass sie verständige Leser finden würden. Sie vertrauten darauf, dass es hinter all der Unmenschlichkeit irgendwo doch noch ein gutes Deutschland gab, für das sich das Risiko einzugehen lohnte. Und als die Verschwörer des 20. Juli ihren Plan verwirklichten, da taten sie das in der Überzeugung, dass es einen Weg Deutschlands zurück in den Kreis der zivilisierten Nationen geben musste. Sie glaubten an die Möglichkeit, die „Majestät des Rechts“ wiederherzustellen – wie es in der nie gehaltenen Regierungserklärung für den Fall der Machtübernahme formuliert war. Es war dieser Glauben an die Möglichkeit eines anderen Deutschlands, den der nationalsozialistische Unrechtsstaat um jeden Preis zerstören wollte.
Im Zusammenhang mit dem Umsturzversuch vom 20. Juli wurden bis zum Ende des Krieges etwa 200 Personen hingerichtet oder in den Tod getrieben. Ihre Leichname äscherte man ein. Ihre Asche verstreute man, um nur ja jegliche Erinnerung an sie zu vernichten. Die Familien der Widerstandskämpfer wurden von der Gestapo verfolgt und mit Sippenhaft belegt. Hitler und seine Helfer meinten, sie hätten damit nicht nur den Widerstand gebrochen, sondern auch dessen Akteure aus dem Gedächtnis der Deutschen gelöscht. Wie sehr sie sich irrten! Der Umsturzversuch am 20. Juli 1944 ist gescheitert – die verbindenden Ziele des Widerstands sind es nicht.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Wie könnte man die „Majestät des Rechts“ besser auf den Punkt bringen als mit diesem ersten Artikel unseres Grundgesetzes? Wir können heute, 80 Jahre danach, gemeinsam bezeugen, dass sich die Frauen und Männer des Widerstands in unserem Land nicht getäuscht haben. Es gibt den Gegenentwurf zur Nazi-Diktatur. Es gibt das andere, das bessere Deutschland – freiheitlich, demokratisch, rechtsstaatlich. Es ist das Deutschland unseres Grundgesetzes – oder genauer, und darum geht es mir heute: Es ist das Deutschland der vielen Millionen Bürgerinnen und Bürger, die dieses Grundgesetz Tag für Tag wirksam werden lassen.
Denn vergessen wir nicht: Selbst nach der totalen Niederlage, selbst im Wissen um den Zivilisationsbruch der Shoah benötigte die junge Bundesrepublik – trotz Grundgesetz – noch etliche Jahre, bis die Rehabilitierung der Attentäter des 20. Juli und ihrer Familien gesellschaftlich akzeptiert wurde. Nötig dafür waren mutige Bürgerinnen und Bürger wie der Jurist Fritz Bauer, der in den 50er Jahren als Generalstaatsanwalt in Braunschweig – gegen heftige Widerstände – für eine Einsicht kämpfen musste, die uns heute völlig offensichtlich scheint: dass nämlich, wie Bauer im sogenannten Remer-Prozess formulierte, „ein Unrechtsstaat, der täglich Zehntausende Morde begeht, jedermann zur Notwehr berechtigt.“
Wie kaum ein anderer Tag lädt der 20. Juli 1944 ein zu Überlegungen nach dem Muster „Was wäre, wenn …“ und konfrontiert uns doch zugleich mit der Unabänderlichkeit dessen, was tatsächlich geschah. Dennoch: Vom deutschen Widerstand bleibt, dass wir gerade nicht vor der Geschichte resignieren müssten. Das Vergangene können wir nicht mehr ändern. Doch in ihrem Werden ist die Geschichte in unserer Hand. In der Gegenwart – in jeder Gegenwart – kommt es auf den Beitrag jedes und jeder Einzelnen an. Nur so kann Unrecht beendet werden. Nur so wird eine bessere Zukunft möglich.
Es war diese Überzeugung, die die Mitglieder des Widerstands in all ihrer Verschiedenheit verband. Es war diese Überzeugung, die Fritz Bauer leitete. Es war diese Überzeugung, die im Juni 1953 überall in der DDR Bürgerinnen und Bürger mit der Forderung nach freien Wahlen auf die Straßen und Plätze trieb. Und es war erneut diese Überzeugung – „Auf mich kommt es an“ –, die am 9. Oktober 1989 in Leipzig 70.000 Bürgerinnen und Bürger dazu brachte, ihre Angst vor dem SED-Regime zu überwinden. Gemeinsam gingen sie auf die Straße, gemeinsam leiteten sie die friedliche Revolution ein, die kaum ein Jahr später in die Deutsche Einheit münden sollte.
„Auf mich kommt es an“ – es ist diese Überzeugung, die uns auch heute verbinden muss. Dafür brauchen normale Bürgerinnen und Bürger im demokratischen Deutschland keine lebensgefährlichen Heldentaten zu vollbringen. Dennoch muss uns allen klar sein: Unsere Demokratie ist auf unseren unermüdlichen Einsatz angewiesen, auf den Einsatz jeder und jedes Einzelnen. „Sie braucht Menschen, die Verantwortung übernehmen“ – wie Sie es in Ihrem Manifest zum heutigen Tag formuliert haben, liebe Vertreterinnen und Vertreter der Stiftung 20. Juli. Deswegen lebt unsere Demokratie davon, dass sich aktive Bürgerinnen und Bürger in ihr engagieren – mit Freunden oder in der Nachbarschaft, in Vereinen oder Verbänden, in Organisationen, Initiativen oder einer demokratischen Partei.
Deswegen lebt unsere Demokratie davon, dass wir uns im Alltag mit Respekt begegnen. Dazu gehört auch die Unterstützung für diejenigen, die sich beruflich für ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger einsetzen: unsere Polizei, unsere Feuerwehren, unsere Rettungsdienste, unser Katastrophenschutz und natürlich unsere Bundeswehr. Und deswegen lebt unsere Demokratie davon, dass wir jeder Art von Menschenfeindlichkeit und jedem Extremismus entgegentreten. Deshalb sage ich hier – 80 Jahre nach dem 20. Juli 1944 – ganz klar: Diejenigen, die unsere Demokratie bekämpfen, werden stets auf unseren entschiedenen Widerstand treffen!
Was auch zu diesem 80. Jahrestag des 20. Juli 1944 gehört, ist der Blick über Deutschland hinaus. Wenn wir heute an die Frauen und Männer des deutschen Widerstands erinnern, dann stehen sie zugleich stellvertretend für den gesamten Widerstand in Europa. In wenigen Tagen jährt sich zum 80. Mal der Warschauer Aufstand der Polnischen Heimatarmee gegen die deutsche Besatzungsmacht. Wir erinnern auch an die französische Résistance, deren Generalstreik vor 80 Jahren die Befreiung von Paris einleitete.
Und im Jahr 2024 können wir diesen 20. Juli nicht begehen ohne Gedanken an die tapferen Bürgerinnen und Bürger der Ukraine, die seit mehr als zwei Jahren dem verbrecherischen russischen Angriffskrieg widerstehen. Ein Krieg, mit dem Russlands Machthaber erklärtermaßen das Ziel verfolgt, die Ukraine zu erobern und als souveränes Land zu zerstören – 79 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und 79 Jahre nach Inkrafttreten der Charta der Vereinten Nationen. Schon aus der Verantwortung vor unserer eigenen Geschichte kann es in dieser Lage für Deutschland nur einen Platz geben: an der Seite der Ukraine!
Sehr viel ist über den 20. Juli gesagt und geschrieben worden – Lehrbücher, Spielfilme, Dokumentationen. Es gibt in der deutschen Vergangenheit wenige Ereignisse mit so viel Aufladung und so wechselhafter Rezeptionsgeschichte. Für sehr viele der heute hier Versammelten ist der 20. Juli 1944 aber auch Ausgangspunkt einer sehr persönlichen Suche, Ausgangspunkt lebenslanger Fragen, oft auch eines lebenslangen Sehnens nach nicht oder kaum gekannten Eltern, nach Großeltern und Urgroßeltern, deren Namen bis in die heutige Zeit hallen. Dass sie gleichzeitig die öffentliche Geschichte und das persönliche, individuelle Vermächtnis der Frauen und Männer des Widerstands im Hier und Jetzt hält, das ist ein großes Verdienst der Stiftung 20. Juli. Ich danke allen von Herzen, die sich dort beteiligen und engagieren. Sie haben sich um unser Land und um unsere Demokratie verdient gemacht. Bitte bleiben Sie dabei! Auch mit dem Verlust der letzten Zeitzeugen wird Ihr Wirken wichtiger denn je!
Was also bleibt heute, 80 Jahre danach? Neben Wachsamkeit bei der Verteidigung unserer Demokratie darf es auch Stolz auf unsere Demokratie sein. Wir feiern in diesem Jahr 75 Jahre Grundgesetz und 35 Jahre friedliche Revolution. Deutschland ist ein angesehenes Land, fest verankert in der Europäischen Union – ein Verteidiger des Völkerrechts, mit Freunden und Partnern in der ganzen Welt. Wir dürfen jeden Tag leben, wofür die Frauen und Männer des Widerstands gestorben sind. Schätzen und bewahren Sie dieses Glück! Halten wir zusammen! Und blicken wir mit Zuversicht nach vorn!
Vielen Dank!