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26.01.2009

Olaf Scholz im Streitgespräch mit Gregor Gysi

Für ein Themenheft der Wirtschaftswoche zu den Auswirkungen der Globalisierung diskutierte Olaf Scholz mit Gregor Gysi. Die zentrale Frage: "Muss der Sozialstaat in der Globalisierung umgebaut werden?"

 

Herr Gysi, eigentlich müssten Sie der SPD für die Agenda 2010 sehr dankbar sein...

 

Gysi: Ich bitte Sie! Das wäre ein sehr enges gesellschaftspolitisches Denken. Ich freue mich nicht, wenn die SPD schwach ist, auch wenn wir dann stärker werden. Ich wäre glücklicher, wenn es kein Hartz IV gäbe - sogar wenn die Linkspartei dann weniger Stimmen bekäme.

 

Aber ohne Hartz IV hätte es die Linkspartei doch niemals gegeben.

 

Gysi: Im Westen war die WASG die Antwort auf die neoliberale Ausrichtung der SPD. Die, die eine Kraft links von der SPD wollten, gründeten eine eigene Partei. Und es war dann Oskar Lafontaine, der die Vereinigung zur Linkspartei erleichterte.

 

Herr Scholz, die Agenda hat dem Land und dem Arbeitsmarkt zwar genutzt, die SPD aber ihre Einheit und ihre Regierungsmacht gekostet, war sie ein parteipolitischer Fehler?

 

Scholz: Nein. Wir haben das Notwendige getan, damit es in Deutschland auch in Zukunft genügend Arbeitsplätze gibt, und wir haben die Arbeitslosenzahl von über fünf auf unter drei Millionen gesenkt. Natürlichstecken wir in diesem Jahr in einer schwierigen Lage, aber wir haben eine bessere Ausgangsposition erreicht als am Beginn früherer Krisen. Wir mussten und müssen die Kraft haben, jenen Zynismus zu durchbrechen, der sich mit der Existenz der Massenarbeitslosigkeit abfindet. Eine demokratische Gesellschaft muss alles tun, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Jeder in diesem Land braucht die Perspektive, in absehbarer Zeit wieder einen Arbeitsplatz zu finden. Das ist unser Ziel.

 

Gysi: Da muss ich Ihnen aber widersprechen. Laut Statistischem Bundesamt haben wir heute sogar weniger sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte. Gestiegen ist nur die Zahl der prekären Beschäftigungsverhältnisse.

 

Scholz: Da liegen Sie falsch. Wir zählen so viel Vollzeitbeschäftigte wie seit Jahren nicht mehr.

 

Nach der Statistik der Bundesagentur für Arbeit haben wir derzeit rund 28 Millionen Erwerbstätige. 2004 waren es nur rund 26 Millionen.

 

Gysi: Wir haben aber weniger Arbeitslose, weil die heute Niedriglohnjobs übernehmen, befristete Verträge, Teilzeitstellen oder 400-Euro-Jobs. Das ist ein echter Niedergang. Ich will keinen Abbau der Arbeitslosigkeit durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse.

 

Scholz: Ach, Herr Gysi, Ihr Argument ist mir zu billig und zu neoliberal.

 

Sie halten den Fraktionschef der Linkspartei für neoliberal?

 

Scholz: Ja, weil Herr Gysi auf die Argumente der CDU, der FDP und der Wirtschaftsverbände hereinfällt, die behaupten, man müsse den sozialen Rahmen verschlechtern, damit es zu mehr Beschäftigung kommt. Wir haben uns stattdessen der Aufgabe gestellt, einen hochmobilen Arbeitsmarkt in einem sozialstaatlichen Rahmen zu schaffen. Das ist das Gegenteil von dem, was diejenigen empfehlen, die für Stillstand stehen und sagen, man solle gar nichts tun und hohe Arbeitslosigkeit akzeptieren. Was wir gemacht haben, war richtig. So konnten wir auch den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 2,8 Prozent senken. Und es warten weitere Probleme, die wir lösen müssen: Es gibt 500 000 Langzeitarbeitslose ohne Schulabschluss. Dagegen muss man etwas tun. Aber Ihre Argumentation, Herr Gysi, folgt mir - wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen - zu sehr der neoliberalen.

 

Gysi: Das ist überhaupt nicht neoliberal! In der Zeit, in der Gerhard Schröder regiert hat, hat der Niedriglohnsektor enorm zugenommen. Damals sind die 400-Euro-Jobs erfunden worden, damals haben die befristeten Arbeitsverhältnisse enorm zugenommen. Ich bleibe dabei, dass es heute weniger Vollzeitbeschäftigung gibt.

 

Scholz: Falsch.

 

Gysi: Und außerdem steht die Partei Die Linke nicht für Stillstand.

 

Scholz: Wieder falsch.

 

Gysi: Nein. Wir gehen nur einen anderen Weg als Sie. Wir wollen einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor. In Berlin versuchen wir das gerade, auch wenn das nicht immer leicht ist, weil viele Tätigkeiten schwer zu vermitteln sind. Wir wollen zum Beispiel, dass Arbeitslose auf Bahnhöfen Auskünfte erteilen und dafür anständig bezahlt werden. Aber es geht nicht, dass Menschen in prekäre Beschäftigungsverhältnisse gedrängt werden.

 

Ist es Ihnen demnach lieber, die Menschen würden länger arbeitslos sein, statt einen befristeten oder mäßig bezahlten Job anzunehmen?

 

Gysi: Das Problem ist doch, dass wir durch die Agenda ungerechte Beschäftigungsverhältnisse bekommen haben. Ich kenne Menschen, denen Arbeit so wichtig ist, dass sie auch Ein-Euro-Jobs oder Teilzeit-Beschäftigungen annehmen. Es gibt Menschen, die so wenig verdienen, dass sie zusätzlich Hartz IV beantragen müssen. Das schwächt übrigens auch die Gewerkschaften. Gehen Sie mal zu einem befristet Beschäftigten und sagen dem: Wir wollen protestieren. Der sagt: Da gehe ich nicht hin, im nächsten Monat wird entschieden, ob mein Vertrag verlängert wird. Bald wird alles noch schlimmer, Jetzt kommt die Wirtschaftskrise.

 

Scholz: Herr Gysi, ich zähle nicht zu den Rhetorikern der Apokalypse, die sich daran weiden, dass alles immer schlechter wird. Wir holen mehr Beschäftigung aus dem Arbeitsmarkt raus, als das früher der Fall war. Arbeitslosigkeit sinkt heute nicht erst bei einem Wachstum von zwei Prozent, sondern schon früher, wie uns die Wissenschaftler bestätigen. Jetzt kommt die Bewährungsprobe in der Konjunkturkrise. Die können wir meistern, auch mit Instrumenten wie Kurzarbeit. Und: Diejenigen, die Arbeit suchen, dürfen wir nicht allein lassen. Daher wollen wir die Zahl der Arbeitsvermittler massiv ausbauen, das ist gerade in schwierigen Konjunkturlagen wichtig. Im Übrigen gilt aber, dass wir eine Absicherung für den freien Fall nach unten brauchen. Darum setzen wir uns für Mindestlöhne ein.

 

Beim Thema Mindestlohn sind sich SPD und Linkspartei doch bemerkenswert einig.

 

Scholz: Der Unterschied zwischen SPD und der Partei Die Linke ist, dass wir Arbeit und Beschäftigung in den Mittelpunkt stellen - und deshalb für Mindestlöhne eintreten. Wir haben uns schon lange für Mindestlöhne eingesetzt. Die Gewerkschaften haben diese Forderung nach uns übernommen; die Partei Die Linke auch.

 

Gysi: Ach, Herr Scholz. Sie hatten doch eine Mehrheit im Bundestag. Trotzdem haben Sie keinen flächendeckenden Mindestlohn beschlossen. Im Wahlkampf 2005 waren Oskar Lafontaine und ich ziemlich allein mit unserer Forderung nach einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn.

 

Scholz: Das ist Geschichtsklitterung. Es war immer schon unser Anliegen, jedem durch anständige Arbeit die Emanzipation aus unzureichenden gesellschaftlichen Verhältnissen zu eröffnen. Ganz anders als die Partei Die linke, die Wachstum und Beschäftigung nie zum Thema gemacht hat.

 

Gysi: Ich bin nur gegen die Ausweitung des Niedriglohnsektors. Und die Wissenschaftler, die Sie beschwören, haben die Ausweitung des Neoliberalismus rauf und runter gepredigt. Ich glaube ohnehin nicht an die These, dass man den Sozialstaat in der Globalisierung abbauen muss.

 

Herr Gysi, die Ausgaben des Sozialstaates steigen seit Jahren an. Das Sozialbudget liegt inzwischen bei rekordverdächtigen 707 Milliarden Euro. Wo ist der Sozialstaat abgebaut worden?

 

Gysi: Wenn ein Viertel der Beschäftigten im Niedriglohnbereich arbeitet, früher war es höchstens ein Zehntel, ist das ein Aufbau von Armut. Dasselbe gilt für 400-Euro Jobber oder Hunderttausende Vollzeitbeschäftigte, die Hartz IV kassieren müssen, weil sie sonst nicht leben können...

 

...aber Letzteres ist doch ein Beweis dafür, dass der Sozialstaat funktioniert.

 

Gysi: Wir könnten unseren Sozialstaat doch ganz anders finanzieren. Es gibt in Deutschland keine Vermögensteuer. Die SPD hat den Spitzensteuersatz und die Körperschaftsteuer gesenkt. Um das Elterngeld für die Besserverdienenden zu finanzieren, hat man es bei den Armeren gekürzt. Es hat eine große Umverteilung von unten nach oben gegeben.

 

Scholz: So ein Quatsch. Die Lage in den entwickelten Ländern ist doch überall ähnlich: Produktionsprozesse ändern sich, und der globale Wettbewerb nimmt zu. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass wir die Lage im Griff behalten. Unser Risiko für das Jahr 2015 ist weder die Globalisierung, wie die einen meinen, noch eine politische Verschwörung, wie offenbar Herr Gysi meint. Unser Risiko ist, dass wir dann nicht genug Fachkräfte und gleichzeitig eine hohe Arbeitslosigkeit haben. Das kann man nicht lösen, indem man ideologischen Obsessionen folgt, sondern nur darüber, dass alle ausreichend qualifiziert werden.

 

Gysi: Wenn ich Herrn Scholz richtig verstehe, dann ist jede Kritik an der SPD eine Verschwörungstheorie. Das nehme ich zur Kenntnis. Gegen die These, dass Globalisierung zum Sozialabbau zwingt, sprechen die Entwicklungen in Dänemark und Schweden. Schweden hat beispielsweise eine Vermögensteuer. Die sind einen völlig anderen Weg gegangen.

 

Scholz: Sie liegen schon wieder falsch. Die schwedischen, dänischen oder deutschen Sozialdemokraten sind den gleichen Weg gegangen: Sie haben versucht, die Langzeitarbeitslosigkeit, die sich seit den Achtzigerjahren aufgebaut hat, durch bessere Vermittlung und einen mobileren Arbeitsmarkt zu bekämpfen. Der Unterschied ist nur, dass die Dänen und Schweden früher angefangen haben.

 

Gerhard Schröder hat die Agenda 2010 mit den Erfordernissen der Globalisierung begründet. Zwingt die weltweite Konkurrenz zu einer neuen Definition des Sozialstaates?

 

Scholz: Wir profitieren in Deutschland alle von der Globalisierung, weil sie mehr Wohlstand schafft. Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass sie nicht jedem gleichermaßen nutzt. Ein Arbeitnehmer, dessen Fabrik wegen der weltweiten Veränderungen geschlossen wird, kann das nicht als Glück empfinden. Die Herausforderung ist, dafür zu sorgen, dass unsere Volkswirtschaft leistungsfähig und die Arbeitnehmerschaft qualifiziert bleibt. Man muss die Rentenversicherung nicht infrage stellen wegen der Globalisierung, man muss nicht auf die Krankenversicherung verzichten oder den Kündigungsschutz das sind ideologische Wünsche, die es schon vor der Globalisierung gab.

 

Gysi: Dann wäre es schön, wenn Sie auch so gehandelt hätten. Natürlich muss der Sozialstaat nicht untergehen. Aber die Rentenversicherung wurde doch schon ausgehöhlt. Es gibt eine Teilprivatisierung des Systems über die Riester-Rente. Und jetzt ist die Rente gekürzt worden, weil es sie nicht mehr ab 65, sondern erst ab 67 Jahren gibt. Für mich ist das Sozialabbau.

 

Die Linkspartei will die Rentenreformen rückgängig machen. Damit würde der Beitragssatz auf 25 Prozent klettern und Arbeit teurer machen. Verschließen Sie die Augen vor Globalisierung und demografischer Entwicklung?

 

Gysi: Nein, ganz falsch. Wir wollen ja eine Reform. Wir wollen, dass in der nächsten Generation alle Bezieher von Einkommen in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, und nicht nur die abhängig Beschäftigten - also auch Rechtsanwälte, Ärzte und Abgeordnete. Wir sind dafür, dass die Bemessungsgrenze aufgehoben wird, damit man auch vom hohen Einkommen einen Beitrag zahlt. Dort ist die Rentensteigerung abzuflachen. Damit könnten wir Durchschnittsverdiener entlasten. Das hat mit der Globalisierung wenig zu tun.

 

Scholz: Bei der Altersvorsorge stellt sich weltweit ein Problem: die veränderte Alterszusammensetzung der Bevölkerung. Deshalb müssen wir die Sozialsysteme neu austarieren - und das haben wir geschafft. Was die weltweite Konkurrenz angeht: Manchen Ländern würde es guttun, wenn sie mehr sozialstaatliche Institutionen hätten. Zum Beispiel die USA. Ein Land ist besonders dann anfällig für eine Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt, wenn man als normaler Arbeitnehmer keine andere Möglichkeit hat, als über seine Verhältnisse hinaus Schulden aufzunehmen, um ordentlich wohnen zu können. Wir haben mit einem großen Angebot an bezahlbaren Mietwohnungen eine Alternative. In Deutschland schafft unser Sozialstaat die Voraussetzungen dafür, auch ohne großes Vermögen
zurechtzukommen.

 

Ist der Sozialstaat demnach ein Exportmodell?

 

Scholz: Die Idee des Sozialstaates breitet sich nicht nur in Europa, sondern auch in den USA aus. Sogar für ehemalige kommunistische Staaten wie China oder Russland, wo sich wilder Kapitalismus ausgebreitet hat, wird die Idee plausibel.

 

Muss man in Zeiten der Globalisierung als Politiker lernen, den Menschen auch bittere Wahrheiten zuzumuten - wie die Agenda 2010?

 

Gysi: Das muss man als Politiker immer, aber nicht solche.

 

Scholz: Beim ersten Mal, wenn Sie sich daran halten, sagen Sie mir bitte Bescheid. Gysi: Das will ich gerne tun. Ich erinnere zum Beispiel an das Jahr 2005. Da hat die SPD zum ersten Mal plakatiert: keine Mehrwertsteuer, und die CDU forderte zwei Prozent mehr Mehrwertsteuer. Schließlich einigten sie sich auf drei Prozent. Das war ein toller Fall der Ehrlichkeit der SPD! Auch wenn andere Parteien nicht besser sind. Ich mag nur nicht mehr hören, Globalisierung bedeute, dass man alles aufgeben müsse. Dass man keine Vermögensteuer erheben dürfe. Dass man nur die Arbeitnehmer belasten solle.

 

Können Sie so leicht klagen, weil Sie in der Opposition ohnehin keine durchgerechneten Alternativen vorlegen müssen?

 

Gysi: Glauben Sie mir, ich kenne den Unterschied zwischen Regierung und Opposition. Aber eine Linke darf ihre Prinzipien nicht verlieren, auch nicht in der Regierung. Das gilt eigentlich auch für die SPD. Es gab unter Gerhard Schröder prozentual weniger Arbeiterkinder, die studierten, als unter Helmut Kohl. Wenn man den Leuten das mit Globalisierung erklärt, dann ist das nicht nachvollziehbar. Ein weiteres Problem ist doch, dass die Binnenwirtschaft nicht gefördert wurde.

 

Scholz: Globalisierung bedeutet, dass wir weniger Fehler machen dürfen als in der Vergangenheit. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Arbeitnehmer gut ausgebildet sind. Wir brauchen mehr Mitbestimmung, wenn es um die Arbeitnehmer als Bürger der globalisierten Welt geht.

 

Gysi: Mit Demokratie und mehr Mitbestimmung hat er recht. Aber insgesamt stelle ich fest, dass wir von einer rot-roten Koalition noch weit entfernt sind.

 

Scholz: In diesem Fall muss ich Ihnen ausnahmsweise sogar recht geben.

 

Die Fragen stellte Cornelia Schmergal. Erschienen in der Wirtschaftswoche vom 26.01.2009, S. 102-104.