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18.10.2003

Olaf Scholz über die Arbeitsmarkt- und die Rentenreform

 

Intervier mit der Berliner Zeitung

 

 

Berliner Zeitung: Herr Scholz, wenn ein 42-jähriger Facharbeiter jetzt arbeitslos wird: Was hat er von der Arbeitsmarkt-Reform, die Rot-Grün beschlossen hat?

 

Olaf Scholz: Er bekommt bessere Unterstützung als bisher. Das Wirrwarr der verschiedenen Ämter hört auf, stattdessen ist allein die Agentur für Arbeit für ihn zuständig. Und dort kommen auf einen Arbeitsvermittler künftig nur noch 75 Arbeit Suchende und nicht mehr bis zu 800. Wir wollen die Arbeitslosen nicht mehr verwalten, wir wollen sie fördern und unterstützen und so rasch wie möglich wieder in Arbeit bringen. Ich bin davon überzeugt, dass man auch in Deutschland erreichen kann, dass kein Mensch länger arbeitslos ist als ein Jahr.

 

 

Ist es für einen Sozialdemokraten vertretbar, dass man dem Arbeitslosen sagt: Nach zwölf Monaten gibt es nur noch 345 Euro im Monat?

 

Nach zwölf Monaten gibt es wesentlich mehr als 345 Euro im Monat. Es gibt zusätzlich Geld für die Familienangehörigen, es gibt auch Geld für die Warmmiete. Wer gearbeitet und Versicherungsbeiträge entrichtet hat, bekommt ohnehin noch zwei Jahre lang einen Zu­schlag zu dem eben genannten Beitrag. Ich glaube, dass sich in den Köpfen der Menschen schnell durchsetzen wird, dass diese Reform gut ist.

 

 

Trotzdem: Mit der Reform sollen sechs Milliarden Euro eingespart werden. Das heißt, die Arbeitslosen kriegen deutlich weniger Geld.

 

Ziel dieser Reform ist es nicht, Geld einzusparen. Wir wollen die Einstellung in der Gesellschaft ändern. Arbeitslosigkeit darf nicht mehr als unausweichliches Schicksal betrachtet werden. Wir werden erreichen, dass eine Million Menschen, die arbeiten können und wollen, von der Sozialhilfe wegkommen. Man darf den moralischen Unterschied nicht unterschätzen, der darin liegt, nicht zum Sozialamt, sondern zur künftigen Arbeitsagentur zu gehen.

 

 

Unterstellen wir mal, dass der 42-jährige Facharbeiter in seinem Fachberuf auch nach zwölf Monaten keinen Job findet. Welche Arbeit muss der annehmen? Ist es zumutbar, dass er in einer Reinigungsfirma die Wäsche in die Maschine räumt?

 

Zunächst mal wird die Agentur für Arbeit sich bemühen, jeden möglichst nahe an seinen Qualifikationen und Erfahrungen einzusetzen. Aber je länger die Arbeitslosigkeit andauert, desto eher muss man auch andere Tätigkeiten akzeptieren. Ich habe für mich einen Grundsatz definiert: Arbeit, von der man findet, dass sie ein anderer Mensch in diesem Land tun soll, die kann man auch für sich selber nicht als unwürdig empfinden.

 

 

In. Berlin gibt es 900 arbeitslose Ärzte, in Ostdeutschland herrscht dramatischer Ärztemangel. Wird sich dies durch Ihre Reform ändern?

 

Das hoffe ich doch sehr.

 

 

Auch wenn ein Arzt nicht für ein Ostgehalt arbeiten will?

 

Wer eine Unterstützung aus Steuermitteln haben will, muss eine Arbeit, die für ihn erreichbar ist, annehmen. Ich finde nicht, dass es unterhalb der Menschenwürde ist, als Arzt in Ostdeutschland zu arbeiten.

 

 

Wenn das alles so klar ist, warum stößt die Reform in Ihrer Partei auf so viel Widerstand?

 

Ich glaube, dass die Arbeitsmarktreform von der großen Mehrheit akzeptiert wird. Außerdem haben wir in dieser Woche noch Verbesserungen in die Gesetze eingebaut. Das gilt zum Beispiel für einen Punkt, den auch ich dem Wirtschaftsminister vorgetragen habe: Natürlich darf in Deutschland keiner gezwungen werden, für unvertretbar niedrige Löhne zu arbeiten. Das musste im Gesetz klar gestellt werden. Wenn man in Deutschland eine Vollzeitarbeit leistet, muss man davon auch leben können.

 

 

Die Union will die Zumutbarkeit anders definieren, so dass Arbeitslose praktisch jeden Job annehmen müssen. Werden Sie nachgeben?

 

Wir werden die Gespräche über die Reform nicht per Zeitungsinterview führen. Aber ich glaube, dass wir an dieser Stelle kein Verhandlungsproblem bekommen werden. Auch die Union wird ihren Anhängern nicht erklären können, dass man eine Arbeit annehmen muss, von der man sich nicht ernähren kann.

 

 

Wie viel Geld braucht man, um sich zu ernähren? Den Sozialhilfesatz?

 

Für Alleinstehende ist das in etwa der Maßstab. Es ist ja auch so, dass in manchen Branchen die unteren Tarife gerade mal auf Niveau der Sozialhilfe liegen.

 

 

Werden Sie mit der Union auch über die Rente verhandeln? Zum Beispiel in einer neuen Konsensrunde?

 

Wir würden das gerne. Wenn man über so langfristige Entscheidungen wie über die Rentenversicherung spricht, macht es Sinn, dass die Entscheidungen von beiden großen Parteien getragen werden. Sollte die Union aber nicht zu Gesprächen bereit sein, können wir die Rentenreform auch alleine bewältigen.

 

 

Am Sonntag findet beim Kanzler eine Koalitionsrunde zur Rente statt. Kommt die Nullrunde für Rentner?

 

Wir haben eine Aufgabe, die leicht zu beschreiben, aber schwierig zu lösen ist. Wir müssen dafür sorgen, dass die Einnahmen und Ausgaben bei der Rentenversicherung in der Balance bleiben.

 

 

Also doch eine Nullrunde?

 

Es wird sehr schwierig, im nächsten Jahr eine Rentenerhöhung zu finanzieren. Aber man darf auch nicht ständig mit Nullrunden um sich werfen. Wer sagt, jetzt brauchen wir drei, vier, fünf Nullrunden bei der Rente, der hat keinen Respekt vor den älteren Menschen. Wer Rente bezieht, hat Beiträge bezahlt und ein Anrecht darauf, sich auf das System verlassen zu können.

 

 

Sie haben immer gesagt, Rente nach Kassenlage darf es nicht geben. Aber wenn jetzt die Nullrunde kommt, was ist denn das anderes?

 

Nein, Rente nach Kassenlage bedeutet jedes Jahr neue, willkürliche Änderungen. Wir wollen eine sorgfältig abgewogene Entscheidung für das nächste Jahr und die Folgejahre treffen. Darauf sollen sich die Leute verlassen können. Und da gibt es eine beruhigende Botschaft: Trotz aller Reformnotwendigkeiten gehen auch die Experten, Rürup genauso wie Herzog, davon aus, dass die Renten in den nächsten Jahren weiter ansteigen werden.

 

 

Wäre es nicht besser, die sozialen Sicherungssysteme überhaupt nicht mehr über Beiträge zu finanzieren?

 

Wir sollten bei der Reform der sozialen Sicherheit nicht so tun, als würden wir ein weißes Blatt Papier neu bemalen. Wir wollen keinen Systemwechsel, anders als die Union, die mit ihrem Kopfpauschalenmodell den Sozialstaat in Frage stellt. Wir haben doch eine Ge­schichte. Die Geschichte in Deutschland ist, dass wir die soziale Sicherheit über Beiträge, die von Arbeitnehmern und Arbeitgebern geleistet werden, bezahlen. Das ist insgesamt sehr erfolgreich, wie man am hohen Leistungsniveau unseres Gesundheitswesens sieht. Und ich sage auch: 350 Milliarden Euro Sozialversicherungsbeiträge jedes Jahr lassen sich in gar keinem Fall durch ein steuerfinanziertes System ersetzen. Es sei denn, man würde die Leistungen des Sozialstaats dramatisch absenken. Das wollen wir nicht, und deshalb müssen wir sagen, dass wir vorsichtige Reformen anstreben.

 

 

Das Interview führten Brigitte Fehrle und Bettina Vestring.