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17.10.2003

Umverteilen - aber was?

Umverteilen aber was?

Warum Sozialdemokraten über Gerechtigkeit nachdenken müssen


I.

Was kann heute eigentlich als gerecht gelten? Darüber ist in der SPD in den vergangenen Wochen eine kontroverse und gerade deshalb produktive programmatische Debatte entbrannt, die auch in der Öffentlichkeit insgesamt auf beträchtliches Interesse stößt.

Es ist offensichtlich: Dieses Thema der Sozialdemokratie bewegt die Menschen. Aber warum ist das so? Und warum gerade jetzt? Mir jedenfalls scheint die Antwort auf diese Frage ziemlich naheliegend: Die bestehenden sozialstaatlichen Arrangements und Institutionen geben auf die legitimen Gerechtigkeitserwartungen von immer mehr Menschen immer unbefriedigendere Antworten.

- Die großen Herausforderungen der Globalisierung  und der globalisierten Wirtschaft gibt es tatsächlich.

- Die Alterung unserer Gesellschaft findet in historisch niemals da gewesener Weise tatsächlich statt. Die angespannte Situation der öffentlichen Haushalte ist eine und die langfristig verfestigte Massenarbeitslosigkeit verbinden sich zu einem komplizierten Problemgemenge, dem offensichtlich keine am Status quo orientierte Politik mehr gerecht werden kann. Wir müssen neue Wege einschlagen aber welche? Bei den Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sowie in vielen Gruppen der Gesellschaft, etwa in den Kirchen und in den Gewerkschaften wächst in dieser Lage die Einsicht, dass wir neu darüber nachdenken müssen, was gerecht ist und was nicht. Mit ihnen zusammen und nicht nur unter sich müssen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Debatte darüber führen, mit welchen veränderten Mitteln das bleibende Ziel der Gerechtigkeit in Zukunft am besten verfolgt werden kann.


II.

Meine regulative Idee der Gerechtigkeit lautet: Gerecht ist, was Menschen in die Lage versetzt, ihr Leben so zu gestalten und zu organisieren, wie sie es selbst gerne gestalten und organisieren möchten; gerecht ist, was die Menschen stärkt. Deshalb bedingen sich Gerechtigkeit und Freiheit wechselseitig: Eine Politik, die Menschen dauerhaft in Abhängigkeit bringt, sie entmündigt oder ihnen Selbstrespekt und Selbstachtung nimmt, kann weder gerecht noch freiheitlich sein. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Sozialdemokratie zuallererst eine Emanzipationsbewegung gewesen. Dem sozialdemokratischen Menschenbild entspricht daher ein Verständnis von Gerechtigkeit, das den Bezug zu einer Lebenschancen ermöglichenden Freiheit stets im Blick behält. Gerecht ist deshalb gerade auch, was die Voraussetzungen dafür schafft, dass mündige Menschen in diesem Sinne ihre eigenen Pläne verfolgen können. Der jüngst verstorbene amerikanische Sozialphilosoph John Rawls nannte diese Voraussetzungen die Grundgüter der Gerechtigkeit. Es geht dabei um Grundrechte, Grundfreiheiten und Chancen, um allgemein dienliche Mittel wie Einkommen und Besitz, um Respekt und Selbstrespekt: Diese Güter, schrieb Rawls, sind Dinge, die freie Bürger als freie und gleiche Personen benötigen, und Ansprüche auf sie gelten als angemessene Ansprüche. Den Menschen solche Grundgüter in möglichst umfassender Weise zur Verfügung zu stellen ist deshalb eine Bedingung dafür, dass politische und soziale Gerechtigkeit überhaupt möglich wird.

Unter den Bedingungen des intensiven und fortgesetzten Wandels der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen muss nun aber immer wieder aufs Neue bestimmt werden, wie dem Ziel der Gerechtigkeit am besten gedient ist. So hat die Tatsache, dass Menschen nach dem Ende des Industrialismus als gesellschaftsprägender Lebensform empirisch völlig unbestreitbar einen veränderten, verstärkt individualisierten Anspruch auf ein selbstbestimmtes und selbstverantwortetes Leben erheben, erhebliche Auswirkungen darauf, was sie für gerecht halten und was für ungerecht. Und so erfordert etwa der beschleunigte Umbruch zu einer wissensintensiven Wirtschaft die Einsicht, dass sich die Voraussetzungen künftiger Gerechtigkeit von den Voraussetzungen bisheriger Gerechtigkeit unterscheiden können. Kein Zweifel, das emanzipatorische Ziel, auch in Zukunft eine möglichst große Zahl von Menschen in den Genuss der Rawls’schen Grundgüter der Gerechtigkeit kommen zu lassen, kann politische Entscheidungen erfordern, die von den noch durch die Erfahrungen und Gerechtigkeitsintuitionen des Industrialismus geprägten Menschen partiell durchaus als ungerecht wahrgenommen werden. Das erlebt die SPD gerade in diesen Monaten. Aber worin bestünde die Alternative zu einem zeitgemäßen Gerechtigkeitsverständnis für das 21. Jahrhundert, wo doch die Bedingungen des 20. Jahrhunderts vergangen sind und auch nicht mehr zurückkehren werden? 


III.

Gerecht ist gewiss nicht der Wandel als Selbstzweck. Allerdings findet der Umbruch der gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen in rascher Weise ohnehin statt. Jeder statische Gerechtigkeitsbegriff droht unter diesen Bedingungen von den fortwährenden Veränderungsprozessen ad absurdum geführt zu werden. Klar ist daher auch, dass kein Wandel und keine Veränderung, kein Aufbruch und keine Erneuerung in der gegenwärtigen Verfassung unseres Gemeinwesens auf jeden Fall ungerecht sind: Die fortgesetzt hohe und über die Jahre strukturell wie konjunkturell weiter gestiegene Arbeitslosigkeit beschneidet heute die Teilhabechancen viel zu vieler Menschen, ja noch ihrer Kinder und Kindeskinder, in unserem Land. Es droht damit das Auseinanderfallen unserer Gesellschaft in strukturelle Insider und Outsider des Sozial- und Wirtschaftssystems, die einander auch im Alltag immer weniger begegnen. Die einen sind drin, die anderen draußen; die einen ziehen in die guten Viertel, die anderen bleiben zurück in den zunehmend abgehängten Stadtquartieren und benachteiligten Regionen; die einen sind in der Wissensgesellschaft angekommen, die anderen verlieren den Anschluss. So nimmt die soziale, kulturelle und räumliche Entmischung zu.

Nicht erst seit den bedrückenden Ergebnissen der PISA-Studie sowie der aktuellen OECD-Studie Bildung auf einen Blick wissen wir, dass die allgemeine soziale Aufwärtsdynamik in Deutschland zum Stillstand gekommen ist übrigens: anders als bei einer Anzahl unserer europäischen Nachbargesellschaften. Doch die Verteilung individueller Lebenschancen darf nicht von vornherein vorausbestimmt sein durch die soziale, regionale oder ethnische Herkunft eines Menschen. Dieses normative Leitbild muss die SPD behaupten und sich, wenn nötig, aufs Neue wieder erarbeiten. Die beiden Politikfelder, auf denen angesichts dieser Umstände zukünftig darüber entschieden wird, ob unsere Gesellschaft imstande ist, möglichst allen Menschen Teilhabechancen zu geben, heißen Bildung und Arbeit. Auf diesen Gebieten vor allem erweist sich der Gerechtigkeitsgrad unseres Gemeinwesens, auf diesen Gebieten müssen Sozialdemokraten deshalb ihrem emanzipatorischen Erbe gerecht werden.

Das war viele Jahrzehnte lang die besondere Stärke unserer Partei: der moralische Anspruch, bessere Chancen und ein besseres Leben in einer gerechteren Welt für immer mehr Menschen zu erkämpfen. Ohne solch eine übergeordnete Mission und Vision aber kann eine sozialdemokratische Partei auf die Dauer gar nicht existieren jedenfalls dann nicht, wenn sie den für sie konstitutiven Glauben an die besondere historische Legitimität ihrer Aufgabe nicht verlieren will. Die Chance, eine Sinndimension sozialdemokratischer Politik im Kampf für bessere und gerechtere Verhältnisse gleichsam neu zu entdecken, kann sich als befriedigendes Aha-Erlebnis für die Partei erweisen sofern sie diese Chance erkennt und entschlossen ergreift.


IV.

Wenn gerecht ist, was Menschen zu zeitgemäßen Grundgütern und damit  zu Lebensperspektiven verhilft, dann ist heute und in überschaubarer Zukunft nichts so gerecht wie die entschlossene Ausweitung von Bildungschancen und Bildungszugängen auf allen Ebenen der Gesellschaft. So betont der renommierte Sozialstaatsforscher Gøsta Esping-Andersen in seinem jüngsten Buch Why We Need a New Welfare State (Oxford 2002) die dringende Notwendigkeit einer integrierten child-centered social investment strategy, also einer Strategie sozialer Investitionen, die von vornherein auf die präventive und nachhaltige Vermeidung der Ursachen von Arbeitslosigkeit und gesellschaftlichem Ausschluss abzielt, statt erst dann mit Transfers oder Maßnahmen einzugreifen, wenn der soziale Schadensfall von Arbeitslosigkeit, gesellschaftlicher Marginalisierung oder Exklusion bereits eingetreten ist.

Hier vor allem, in der bestmöglichen Verteilung von Lebenschancen wird sich deshalb im 21. Jahrhundert der Gerechtigkeitsgehalt sozialdemokratischer Politik erweisen. Das wirklich Überraschende an den neuen Formen des Kapitalismus ist die Art, wie er ... Ungleichheit erzeugt, schreibt der amerikanische Soziologe Richard Sennett zu Recht. Wachsende Ungleichheit und schwindende Versorgung mit den Grundgütern der Gerechtigkeit werden heute und in Zukunft aber vor allem durch Mangel an Bildung hergestellt. Deshalb gilt unter den Bedingungen immer stärker wissensgestützter Ökonomie mehr als jemals zuvor: Gerechtigkeit ist Bildung und Bildung ist Gerechtigkeit. Eben das macht den Zugang zu Bildung zu einem entscheidenden Thema. Bildung ist heute der zentrale Schlüssel, der den Weg zu den Grundgütern der Gerechtigkeit eröffnet. Wo Sozialdemokraten Bildung in ihrer ganz umfassenden gesellschaftspolitischen Dimension zum zentralen Leitmotiv ihrer Politik machen, da wird in der Tat der Pfad zu einer neuen Politik der Gerechtigkeit eingeschlagen, die diesen Namen wirklich verdient.

Wo wir als Sozialdemokraten überzeugend darzulegen imstande sind, dass wir entschlossen und mit absoluter Vordringlichkeit für selbstverständlich: qualitativ gute und zeitgemäße Bildung für möglichst viele Menschen kämpfen, da erobern wir uns ein zentrales und zeitgemäßes Gerechtigkeitsprojekt von unmittelbarer Plausibilität. Stellen wir angesichts des unumkehrbaren Weges in die wissensintensive Wirtschaft nachweislich Bildung in den Mittelpunkt sozialdemokratischer Gerechtigkeitspolitik, beweisen wir, dass wir verstanden haben, worin die Voraussetzungen einer gerechten und wirtschaftlich erfolgreichen Gesellschaft unter den ökonomischen Bedingungen des  21. Jahrhunderts bestehen.


V.

Die SPD wird sich auf diese Weise nicht nur ein gesellschaftspolitisches Offensivprojekt zurückerobern. Sie kann damit auch symbolisch, kulturell und emotional den Anschluss an für sie selbst formative, in den jüngsten Jahrzehnten aber eher in den Hintergrund getretenen Phasen ihrer eigenen Geschichte zurückgewinnen. Historisch gesehen war die Sozialdemokratie viele Jahrzehnte lang das genaue Gegenteil einer statisch auf Bewahrung ausgerichteten Partei. Sie war zuallererst eine Emanzipations- und Selbsthilfebewegung in Zeiten fundamentaler sozialer Umbrüche und Verwerfungen im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung, wobei Bildung von Anfang an als zentrales Mittel zur (Selbst-)Befreiung aus ungerechten Verhältnissen betrachtet wurde. Genau diesem Anspruch muss die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert unter neuen Bedingungen wieder gerecht werden. Die soziale und kulturelle Ermächtigung von Menschen, die anderenfalls mangels Fertigkeiten und Kenntnissen unweigerlich an die Ränder der Gesellschaft geraten würden, ist ein Anliegen, das eine sich ihrer Herkunft bewusste Sozialdemokratie schon aus normativ-moralischen Gründen mit neuer Dringlichkeit auf ihre Fahnen schreiben muss.

Mit neuer Dringlichkeit? Ich glaube schon. Natürlich können wir uns weismachen, die SPD sei in den vergangenen Jahren mit immer gleichbleibender Intensität und Vordringlichkeit die Partei der gerechten Bildungschancen und der sozialen Aufwärtsmobilität gewesen. Nur stößt sich diese Behauptung an der harten Wirklichkeit, wie sich nicht zuletzt im internationalen Vergleich zeigt. Die Wahrheit ist: Als Emanzipationsbewegung und Ermöglicher sozialer Aufwärtsmobilität waren schon einmal besser. 

Aufstieg durch Bildung unter diesem sehr ernst gemeinten Motto rissen die Sozialdemokraten in den frühen sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die öffentliche Meinungsführerschaft an sich. Bildungspolitik wurde zum Markenzeichen schlechthin der sozialreformerischen SPD jenes Jahrzehnts mit enormem Erfolg für die Partei selbst, aber auch für die Bundesrepublik insgesamt. Damals machte sich eine in der Ära Adenauer betulich gewordene Gesellschaft entschlossen auf den Weg in eine bessere und gerechtere Zukunft, die Fortschritt für alle bringen sollte. Sozialer Aufstieg durch Bildung wurde zur handfesten Erfahrung einer ganzen Gesellschaft.

Plötzlich waren Lebenswege nicht mehr durch soziale Herkunft festgelegt. Zu Millionen gelang den Kindern kleiner Leute in der Ära von Willy Brandt und Helmut Schmidt der Ausbruch aus bildungsarmen Verhältnissen. Die soziale Durchlässigkeit der Gesellschaft wuchs beträchtlich; wer von unten kam, musste nicht mehr zwangsläufig unten bleiben. Fortschritt war möglich! Der Sohn des Bergarbeiters aus Dortmund-Eving konnte es nun zum Diplomingenieur bringen, die katholische Landwirtstochter aus Niederbayern zur Psychologin. Und die Bildungsleitern, auf denen sie nach oben stiegen, hatten Sozialdemokraten aufgestellt. Es war die enge Verzahnung zwischen dem erfolgreicher Leben vieler Menschen und sozialdemokratischer Politik, der den bis heute bestehenden Lebensbund einer ganzen Generation mit der SPD begründete.

In den trägen Jahren der Ära Kohl wurde die Uhr des gerechten Fortschritts zum Stillstand gebracht, ja zurückgedreht. Seit 1998 haben wir sie unter sehr schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wieder zum Ticken gebracht. Der sichernde und schützende Sozialstaat in Deutschland existiert im historischen und internationalen Vergleich in nahezu beispielloser Weise, und natürlich werden wir darum kämpfen, dass es dabei bleibt. Damit die Uhr des gerechten Fortschritts auch in Zukunft laufen kann, müssen wir sie heute neu aufziehen und justieren davon handelt die aktuelle Debatte innerhalb der SPD. Dass diese Diskussion um ein zeitgemäß erweitertes Verständnis von Gerechtigkeit nicht im Entferntesten die Abkehr von den Gedanken der sozialen Gerechtigkeit und der gerechten Verteilung bedeutet, versteht sich schon begrifflich von selbst. Die SPD wird auch im 21. Jahrhundert am Leitbild der sozialen Gerechtigkeit festhalten. Gerade deshalb müssen wir uns darüber verständigen, wie sich dieser Anspruch angesichts fundamental veränderter Konstellationen bewahren und erneuern lässt.


VI.

Heute müssen wir uns sehr ernsthaft fragen, in welchem Zustand sich die Bildungsleitern befinden, auf denen viele jener Kinder kleiner Leute vor Jahrzehnten den sozialen Aufstieg geschafft haben: Sind sie nicht ziemlich morsch geworden? Sind nicht allzu oft die untersten Sprossen herausgebrochen? Scheitern nicht viele heute bereits deshalb am Einstieg in den Aufstieg? Und haben nicht auch die erfolgreich nach oben Gekletterten zugelassen, dass einige dieser Leitern hinter ihnen wieder eingezogen wurden?

Auch hier ist der empirische Befund eindeutig. Nach aktuellen internationalen Vergleichsstudien des Heidelberger Sozialstaatsforschers Wolfgang Merkel liegt Deutschland im Vergleich von 19 westlichen Industrienationen anhand der Kriterien von Armut, Bildung, Arbeitsmarkt, Sozialstaat und Einkommensverteilung nur auf dem elften Platz. Schon das ist bedenklich genug. Extrem besorgniserregend ist aber, dass Deutschland dabei gerade auf den Gebieten der Bildung und des Arbeitsmarktes besonders schlecht abschneidet exakt dort also, wo über gerechte Lebenschancen und die Zukunftsfähigkeit unseres Landes am meisten entschieden wird.

Nicht allein die unbestreitbaren Mängel des deutschen Bildungssystems im internationalen Vergleich sind heute unser Problem. Schlimmer noch ist, dass die soziale Aufwärtsdynamik der sechziger und siebziger Jahre inzwischen fast völlig zum Stillstand gekommen ist. Kaum irgendwo sonst in der westlichen Welt hängen Bildung, Berufs- und Lebensperspektiven der Menschen heute so sehr von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland. Wenn es von 100 Kindern aus der Oberschicht 72 bis an die Universität schaffen, aber nur acht aus der Unterschicht, dann hat unsere Gesellschaft ein hoch dramatisches Gerechtigkeitsproblem. Kein Zweifel, dieses Problem ist auch ein Umverteilungsproblem, denn natürlich kostet gute Bildung für alle viel Geld. Aber das ist eine Selbstverständlichkeit, über die zu streiten sich nicht lohnt. In Wahrheit müssen wir die Frage beantworten, welchen Prioritäten Umverteilungspolitik heute folgen muss, um im Ergebnis gerecht zu sein.

Dass es gleichzeitig gerechter und ökonomisch erfolgreicher geht, beweisen im Übrigen auf nüchtern-visionäre Weise unsere skandinavischen Nachbarländer: Hervorragendes Bildungswesen, flächendeckende und hochwertige Betreuungseinrichtungen für Kinder sowie dadurch ermöglicht die hohe Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben tragen hier dazu bei, dass die Arbeitslosigkeit gering bleibt und das Risiko von Bildungsarmut und sozialem Ausschluss gering. Nebenbei verzeichnen die skandinavischen Gesellschaften hohe Geburtenraten und wirtschaftliche Dynamik so entsteht lebbare Zukunft. Das bedrückende Phänomen der Vererbung sozialer Nachteile von einer Generation zur nächsten ist in Skandinavien weitgehend ausgestorben. Wie sich moderne Sozialstaatlichkeit und ökonomische Effizienz gegenseitig zu stärken vermögen, statt einander in die Quere zu kommen, haben Manuel Castells und Pekka Himanen in ihrem Buch The Information Society and the Welfare State: The Finnish Model (Oxford 2002) eindrucksvoll nachgewiesen.


VII.

Bildung, Arbeit, Familie, Lebenschancen, Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität all das bedingt einander heute in der Tat gegenseitig. An der Wirklichkeit scheitern wird deshalb, wer versucht, diese Kategorien gegeneinander in Stellung zu bringen. Nicht das Beharren auf historischen Begriffen wird den Erfolg sozialdemokratischer Gerechtigkeitspolitik im 21. Jahrhundert sicherstellen. Nicht um abstrakte Debatten über mehr Staat oder weniger Staat geht es, auch nicht vor allem um das Niveau von Sozialtransfers. Was Menschen heute dringend erwarten und brauchen, sind tatsächliche Lebenschancen und echte Chancengleichheit in einer solidarischen Gesellschaft.

Eine Neue Politik der Gerechtigkeit zum vor allem mit den Mitteln bemächtigender Bildung bedeutet deshalb zugleich eine Chance für die SPD, ihre ursprünglichen Leitmotive wieder zu entdecken. Zugleich wird sie vielfältige gesellschaftliche Bündnisse sowie Verbindungen zu verwandten Debatten ermöglichen: So benötigt die Wirtschaft hoch qualifizierte Arbeitskräfte, wobei angesichts des im Ernst erst noch bevorstehenden, in seinem Ausmaß noch kaum begriffenen demografischen Umbruchs bereits jetzt klar ist, dass jeder  einzelne heute unzureichend ausgebildete Jugendliche nicht nur unwiederbringlich um Lebenschancen und Grundgüter der Gerechtigkeit gebracht wird, sondern auch schon in wenigen Jahren eine Belastung für Wertschöpfung und Sozialstaat bedeutet. So wirken die Gebote der Gerechtigkeit und des ökonomischen Nutzens in dieselbe Richtung. Ausdrücklich bezieht auch Gøsta Esping-Andersen Gerechtigkeits- und Effizienzgesichtspunkte aufeinander, wenn er völlig zu Recht schreibt: Es sollte allen offensichtlich sein, dass wir es uns in den fortgeschrittenen Ökonomien des 21. Jahrhunderts keinesfalls leisten können, nicht egalitär zu sein. Dem steht derzeit noch die Wirklichkeit im Wege. Ausbildung und besonders die weiterführenden Bildungsinstitutionen wirken in Deutschland in hohem Maß sozial ausschließend. Zugleich werden diejenigen, die an höherer Bildung gar nicht oder nur wenig teilhaben, überproportional zu deren Finanzierung herangezogen. Das ist weder gerecht noch volkswirtschaftlich weitsichtig.

Deshalb ist es gerade auch aus gerechtigkeitspolitischen Gründen richtig, im Rahmen eines umfassenden nationalen Bildungsprojekts dafür zu sorgen, dass es in Deutschland Ganztagsbetreuung für alle Kinder gibt, deren Eltern das wollen. Deshalb wäre es auch richtig, zeitgemäße Veränderungen an der Schulpflicht vorzunehmen. Es ist nicht einzusehen, weshalb kein lebenslanges Recht auf einen ersten allgemeinbildenden Schulabschluss etabliert und durch konkrete institutionelle Bildungsangebote auch handfest zu unterfüttert werden sollte. Ebenso sinnvoll wäre es, die Schulpflicht in Deutschland nicht mehr bis zum 14. Lebensjahr gelten zu lassen, sondern erfolgsabhängig bis zum ersten Schulabschluss. Solche Maßnahmen würden dazu beitragen, genau diejenigen Gruppen mit neuen Fertigkeiten und Chancen auszustatten, die anderenfalls in Zukunft (und bereits heute) auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft von vornherein dem Risiko der fortgesetzten Exklusion ausgesetzt wären.

Die genannten Beispiele stehen für sehr konkrete und dennoch weit über den Tag hinausweisende Gerechtigkeitsziele, die geeignet sind, die Zukunft in Deutschland für ganz normale Menschen lebbar zu machen. Genau diesen Bezug zur realen Verfassung unserer Gesellschaft heute und über den Tag hinaus brauchen wir nach meiner Überzeugung unbedingt gerade auch in unseren programmatischen Debatten über die Grundsätze und Ziele sozialdemokratischer Gerechtigkeitspolitik im 21. Jahrhundert. Moderne, gebildete, säkulare Gesellschaften sind von der Existenz einigermaßen konkreter, optimistischer und plausibler politischer Szenarien abhängig statt von Szenarien zur Erlösung jenseits des Grabes, hat der Philosoph Richard Rorty zu Recht festgestellt. Und weiter: Um an sozialer Hoffnung festzuhalten, müssen die Mitglieder einer solchen Gesellschaft sich selbst eine Geschichte erzählen können, die davon handelt, wie alles besser werden kann. Und sie dürfen keine unüberwindlichen Hindernisse für das Wahrwerden dieser Geschichte sehen. Deshalb taugen alle unsere Grundsatzdebatten zur Frage der Gerechtigkeit letztlich nur so viel, wie sie einen ganz handfesten Beitrag dafür leisten, dass unter den veränderten Bedingungen des 21. Jahrhunderts mehr Menschen bessere Chancen auf ein besseres Leben haben. In diesem Sinne haben wir uns auf den Weg gemacht.