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20.01.2009

Politik in unsicheren Zeiten - Die Herausforderungen moderner Arbeitsmärkte

Wir leben in unsicheren Zeiten. Diese Diagnose ist für einen Soziologen eine nüchterne, empirisch-analytische Beschreibung der Zustände in unserem Land. Für den Politiker aber bedeutet sie zugleich auch eine normativ-praktische Aufforderung zum Handeln, zum Wiederherstellen von Sicherheit, zum Entwickeln von Orientierung. Angesichts der weltweiten Finanzkrise sind die Unsicherheiten in den letzten Monaten eher gewachsen. Insbesondere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schauen mit weniger Zuversicht in die Zukunft und verlangen zu Recht nach Institutionen, die ihnen Halt und Stabilität versprechen.

Wenn Unsicherheit in immer mehr Lebensbereiche hineinkriecht, dann untergräbt das letztlich das ethisch-politische Fundament unserer Gesellschaft. Es macht es immer schwieriger, das Ethos der Arbeit auch tatsächlich als individuelle und gesellschaftliche Ressource zu erhalten. Die Würde der Arbeit auch die Bestimmung zum Besseren, die in ihr liegt gerät zwangsläufig unter Druck, wenn Arbeit schlecht bezahlt und sozial kaum abgesichert geleistet werden muss.

Vor ähnlichen Herausforderungen stehen alle westlichen Industrieländer. Das ist auch abzulesen an zwei US-amerikanischen Liedern, die jeweils den programmatischen Titel Working Man’s Blues tragen: 1969 besingt der Country-Sänger Merle Haggard in seinem Workin’ Man Blues das harte, aber auch stolze Leben eines amerikanischen Arbeiters, der sich fest vornimmt, so lange zu arbeiten, wie es seine zwei Hände zulassen. 2006 klingt das bei Bob Dylan im Workingman’s Blues #2 schon ganz anders: Da verdüstern immer niedrigere Löhne, verlagerte Jobs und sinkende Kaufkraft das Gemüt des Arbeiters. Hatte sein Vorgänger noch sein Schicksal selbst in der Hand und konnte bekennen, dass er niemals auf die Wohlfahrt angewiesen sein werde, kann sich der Arbeiter heute da nicht mehr so sicher sein. Tatsächlich herrscht bei vielen ein Gefühl tiefer Verunsicherung. Und zwar nicht nur in den sozialen Brennpunkten an den ausfransenden Rändern unserer Großstädte deren Existenz wir in unserer nivellierten Mittelstandsgesellschaft lange Zeit für undenkbar hielten , sondern auch mitten im Herz des deutschen Wohlstandsmodells: im Arbeitsleben.

Viele alte Gewissheiten werden ungewiss. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bleiben aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr ihr gesamtes Berufsleben bei einem Arbeitgeber. Manche wechseln regelmäßig zwischen Festanstellung und Selbstständigkeit oft weil sie das müssen. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ziehen immer häufiger der Arbeit hinterher und bleiben nicht mehr über Jahrzehnte an einem Ort. Dahinter können neue Möglichkeiten stecken, aber auch Notwendigkeiten. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen mit einem Fluss an Informationen umgehen können, der nicht nur breiter, sondern auch schneller geworden ist. Anforderungen verändern sich beinahe wöchentlich. Das verlangt Flexibilität. Allerdings wäre es ein Trugschluss zu glauben, dass diese Flexibilität die ja auch ihre guten Seiten hat nur auf Kosten der Sicherheit in einer Gesellschaft zu haben wäre. Diesen Gegensatz gibt es vielleicht rhetorisch, nicht aber faktisch. Flexibilität kann unter sozialstaatlichen Rahmenbedingungen gewährleistet werden. Das ist die Aufgabe.

Der Sozialstaat muss selbstverständlich auf die Höhe der Zeit gebracht werden, um die heutigen Probleme und nicht die des 19. Jahrhunderts zu lösen. Aber er hat fantastische Leistungen in der Vergangenheit erbracht; und er ist dazu auch in Zukunft in der Lage. Die Idee des sozialstaatlichen Ausgleichs ist gerade angesichts verschärfter gesellschaftlicher Unsicherheiten aktuell. Solidarität in großen Institutionen zu organisieren und in Rechtsansprüche zu fassen bedeutet schließlich auch, sich in einer Gesellschaft einander zu versichern. Die Kraft des Gemeinsinns ist eine wesentliche Ressource, weil sie dem Einzelnen Halt gibt bei dem Versuch, sein Leben zu meistern.

Wir müssen aufpassen, dass wir die Bürgerinnen und Bürger nicht mit dem Anschein einer permanenten Revolution aller Verhältnisse überfordern. Die beinahe maoistischen Anwandlungen, die manche Wirtschaftsliberale an den Tag legen, sind weder psychologisch noch wirtschaftlich klug. Der Soziologe Rainer Paris hat zu Recht davor gewarnt, dass die Permanenz der Reformen und Reformreformen den Erwartungshorizont und die Wahrnehmung bestimmt. Das schürt vielfach nicht einfach nur Ängste und Unsicherheit, sondern das zerstört eine Grundbedingung des gesellschaftlichen Lebens und Alltagshandelns: das Gefühl oder zumindest die Aussicht von Normalität. Das Ergebnis ist eine Art Reformparadox: Die Verhältnisse verändern sich und erzeugen Unsicherheiten. Um die alten Sicherheiten weiterhin zu gewährleisten, müssen einige der dazu genutzten Instrumente verändert werden. Das aber schafft kurzfristig nur noch größere Unsicherheit. Gänzlich umgehen lässt sich dieses Phänomen nicht, aber es ist möglich, zumindest seine mutwillige Steigerung zu verhindern. Der Wettlauf um die radikalsten Einschnitte jedenfalls zerstört auch noch die letzten Reste Vertrauen, die wir als Reformressource dringend brauchen, um die kurzfristigen Effekte abzufedern, bevor die mittelfristigen Wirkungen eintreten können.

Alles Gerede von einem vermeintlich notwendigen Bruch mit unserem Entwicklungspfad ist daher verfehlt. Kündigungsschutz, Betriebsverfassung und Mitbestimmung stammen aus einer anderen Zeit. Sie passen aber auch noch zu einem deutschen Sozialstaat, der die Herausforderungen unserer Zeit bewältigt. Sie sind nach wie vor Grundlage der erfolgreichen Kooperation aller relevanten Kräfte in Wirtschaft und Gesellschaft. Wir brauchen kluge Lösungen, die es ermöglichen, Sicherheit und Flexibilität nicht gegeneinander zu balancieren, sondern miteinander zum Schwingen zu bringen. Es gibt Beispiele, dass das möglich ist:

Erstens: Bildung, Ausbildung und Qualifizierung müssen jedem offenstehen und ihm ermöglichen, sein Potenzial voll zu entfalten. Der Rechtsanspruch, sich auf das Nachholen eines Hauptschulabschlusses vorbereiten zu können, zeigt die Bedeutung der sichtbaren Durchlässigkeit unseres Bildungssystems. Das gilt auch für eine deutlich verbesserte Förderung der Weiterbildung. Jeder Arbeitnehmer muss das Recht haben, seine hart erarbeiteten Qualifikationen zu bewahren oder auszuweiten.

Zweitens: Vom Versprechen der Vollbeschäftigung darf sich eine soziale Marktwirtschaft in einer demokratischen Gesellschaft nicht verabschieden. Niemand darf länger als ein Jahr arbeitslos sein. Dazu müssen wir nicht nur den Arbeitsmarkt stimulieren, sondern auch die Arbeitsvermittlung zur leistungsfähigsten Institution unseres Landes machen. Die dazu notwendigen Reformen sind in den letzten Jahren öffentlich eher als Quelle der Unsicherheit rezipiert worden. Aber das stimmt nicht: Sie haben Millionen von Menschen wieder die Perspektive auf Arbeit gegeben, darauf, das eigene Leben selbst in die Hand nehmen zu können. Das ist eine Voraussetzung dafür, Sicherheit und Selbstsicherheit erfahren zu können.

Drittens: Arbeit hat eine eigene Würde, die auch in einer angemessenen Entlohnung zum Ausdruck kommen muss. Weil das heutzutage keineswegs immer der Fall ist, steht seit einigen Jahren die Diskussion über den Mindestlohn weit oben auf der politischen Agenda. Über Jahre hinweg haben manche die Tarifautonomie und die Sozialpartnerschaft mit Forderungen nach Deregulierung und einem Ende der Kompromisse konsequent untergraben. Das Ergebnis heute ist, dass die Schutzinteressen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in manchen Bereichen nicht mehr durch Vereinbarungen der Tarifpartner allein zu sichern sind. Der Staat steht hier zunehmend mit in der Verantwortung. Ein Weiteres kommt hinzu: Wenn wir im Zuge der Arbeitsvermittlungsreformen zu Recht sagen, dass jede Arbeit ehrenwert ist, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass das stimmt. Beides gelingt mit klugen Mindestlohnregelungen.

Viertens: Sicherheit in einer modernen Arbeitswelt bedeutet auch Souveränität im planvollen Umgang mit der eigenen Arbeitszeit. Es geht darum, Langzeitkonten zu sichern und auszubauen, auf denen man Wertguthaben ansparen kann, um sich weiterzubilden, um in ein Sabbatical zu gehen oder um sich um die Familie zu kümmern. Ein solches Instrument wäre inhaltlich der Kern einer Arbeitsversicherung, die berufliche Übergänge und Erwerbsunterbrechungen absichern sowie Weiterbildung in allen Lebensphasen gewährleisten soll, wie es im Hamburger Programm heißt. Dazu gehören außerdem eine deutlich höhere Altersgrenze beim BAföG sowie mittelfristig eine verbesserte Organisation der Weiterbildung.

Fünftens: Zu einer modernen Arbeitswelt gehört die Möglichkeit, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Gewinn und Kapital zu beteiligen. Vor dem Hintergrund der immer weiter auseinandergehenden Schere zwischen Löhnen und Gewinnen ist das ein sinnvolles Vorhaben, das auch in kleinen und mittleren Betrieben zu fördern.

Sechstens: Auch diejenigen mit gebrochenen Berufsbiographien oder kleinen Einkommen aus Selbstständigkeit oder Freiberuflichkeit haben ein Anrecht auf eine ausreichende und verlässliche Absicherung im Alter. Wir werden Unsicherheiten nur dann abbauen können, wenn wir in der Lage sind, glaubwürdig zu versichern, dass sich die heutigen Anstrengungen auch im Alter bemerkbar machen werden.

Politik ist nicht mehr und war wahrscheinlich nie in Kenntnis des einen archimedischen Punktes, von dem aus sich das Ganze verändern ließe. Aber Politik steht in der Verantwortung, ganz pragmatisch Lösungen für die anstehenden Probleme zu entwickeln und umzusetzen. Dabei bedarf es der Mitwirkung der klassischen Akteure auf dem Arbeitsmarkt. Es muss gelingen, sowohl Arbeitgeberverbände als auch Gewerkschaften wieder in die Lage zu versetzen, miteinander konstruktiv zu reden. Neben der öffentlichen Inszenierung der Differenz, um die eigene Mitgliedschaft zu stabilisieren, muss der konstruktive Dialog in der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen wieder möglich werden. Erst das Zusammenspiel staatlicher Initiative und sozialpartnerschaftlicher Verhandlungen bildet das Fundament, auf dem neue Sicherheiten in unserer Arbeitsgesellschaft entwickelt und gebaut werden können.

Die Unsicherheiten in unserer Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt sind gewachsen: Die technische und digitale Revolution, die neuen Möglichkeiten der Mobilität, alles das sind Erdstöße, deren seismische Wirkungen deutlich spürbar sind. Aber: Wenn sich die Landschaft verändert, dann hilft es nicht, den alten Weg gehen zu wollen. Wir haben keine Zeit für Melancholie. The place I love best is a sweet memory, singt Bob Dylan’s Workingman. Und fährt fort: It’s a new path that we trod.” Um diesen neuen Pfad müssen wir uns kümmern. Der alte Weg ist vielleicht längst verschüttet oder zum Umweg geworden. Wir brauchen neue Wege, auf denen wir uns in Bewegung setzen können.

Politikerinnen und Politiker müssen handeln. Auch für uns sind mit der Zeit die Zonen der Unsicherheit gewachsen, in denen wir uns bewegen: Je komplexer die Gesellschaft, desto weniger absehbar die Folgen einer einzelnen Policy-Initiative. Wir müssen deshalb bereit sein zum inkrementellen Handeln und zur Korrektur, so sie nötig sein sollte. Eines aber dürfen wir nicht: Zaudern und zögern. Die Bürgerinnen und Bürger verlangen neben aller Analyse pragmatische und vor allem funktionierende Lösungen für ihre Probleme. Damit und nicht mit Maximalforderungen erreichen wir, dass Sicherheit und Vertrauen in unseren Sozialstaat wieder wachsen. Wer Ordnung schaffen will, der muss nach politischen Lösungen streben.

(Aktualisierte und gekürzte Fassung einer Rede auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie am 10. Oktober 2008 in Jena.)

 

Beitrag erschienen in: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 1/2 (2009), S. 24-27.