arrow-left arrow-right nav-arrow Login close contrast download easy-language Facebook Instagram Telegram logo-spe-klein Mail Menue Minus Plus print Search Sound target-blank X YouTube
Inhaltsbereich

Detail

01.12.2001

Rechtspopulismus auf dem Vormarsch?

Sehr geehrte Damen und Herren,

bei der Hamburger Bürgerschaftswahl im September hat die neu gegründete  Partei Rechtsstaatlicher Offensive des Richters Schill aus dem Stand fast 20 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen können.

Dieses Ergebnis bietet für die bisher regierende sozialdemokratische Partei genü-gend Anlass, sich selbstkritische Fragen zu stellen. Sicherlich haben Defizite zum Beispiel bei der Bekämpfung der Kriminalität und Defizite beim öffentlichen Umgang mit dem Thema Sicherheit die Voraussetzungen für den Wahlerfolg einer rechten, auf Sicherheitsthemen konzentrierten Partei mit geschaffen. Es ist zwar nicht müßig, aber letztlich unbedeutend, darüber zu diskutieren, inwieweit auch die mediale Fas-zination für den Richter Schill einen weiteren Beitrag zu seinem Erfolg geleistet hat. 

Trotzdem bleibt Diskussionsbedarf. Die auch von Wahlforschern gemessene Wech-selstimmung bei den Wählerinnen und Wählern hätte für die Opposition im Parlament schon den Wechsel auf die Senatsbank ermöglichen können. Dass aber die eigentli-che Hamburger Oppositionspartei, die CDU, der zahlenmäßig hautsächliche Wahl-verlierer ist, dass die CDU fast 5 Prozent Stimmen verliert, dass die CDU eine Partei mit nur 26 Prozent ist, das ist bemerkenswert.

Der Parteienforscher Joachim Raschke hat, was die Hamburger Gegebenheiten be-trifft, von einem  defizitären Parteiensystem gesprochen. Von einem defizitären Par-teiensystem, in dem auch die Oppositionspartei CDU schon mehrfach von den Wäh-lern abgestraft wurde. 

Seit Anfang der 90er Jahre ist in Hamburg die Zahl der Stimmen, die auf Parteien entfallen sind, die nicht mehr in die Bürgerschaft gekommen sind, kontinuierlich an-gestiegen. Bereits bei der letzten Bürgerschaftswahl waren es fast 20 Prozent. Die Zahl der Stimmen, die auf Parteien am rechten politischen Rand gefallen sind, ist ebenfalls kontinuierlich gestiegen. Bei der Bürgerschaftswahl 1997 waren es, rechnet man NPD (1.107), DVU (40.957), Republikaner (15.207) und Bund Freier Bürger (10.914) zusammen, bereits fast 68.000 Stimmen.

Angesichts der über 165.000 Stimmen, die auf die Partei des Herrn Schill gefallen sind und angesichts der Tatsache, dass die genannten rechten Parteien bei der letz-ten Wahl nur noch rund 6500 Stimmen bekommen haben (DVU: 6.043; Rep: 574; NPD und BFB waren nicht angetreten), muss die Schill-Partei dieses  gewachsene rechtsradikale Potenzial verschluckt haben.

Immer mehr Stimmen für Parteien, die nicht in die Parlamente kommen.  Immer mehr Stimmenpotenziale für rechte oder rechtsextremistische Parteien: Diese Zeichen sind nicht wahrgenommen oder jedenfalls nicht ernst genommen worden.

Die Wahlforschung vermeldet auch Interessantes. Fast überall ist die Partei Rechts-staatlicher Offensive mindestens auf 10 Prozent gekommen. Sie ist also nicht nur ein Phänomen, das sich in sozial komplizierten Stadtteilen zeigt, sondern eines das in der ganzen Stadt auftaucht. Und es gibt einen Gürtel im südlichen Hamburg, ge-schlossene, alte Arbeiterquartiere, wo die Schill-Partei besonders erfolgreich ist. Zwar ist dort die SPD meist stärkste Partei. Aber die Partei Rechtstaatlicher Offensi-ve hat auch durchschnittlich über 20 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen kön-nen.

Jetzt werden in einigen Bundesländern der Partei PRO Wahlerfolge ähnlichen Aus-maßes wie in Hamburg zugetraut. Das wird zum Beispiel für Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern vorhergesagt.

All diese Entwicklungen sind Anlass für uns, uns umzuschauen. Beim Blick von Hamburg in die Welt oder jedenfalls in das westliche Europa stellen wir fest, dass die Gründung neuer rechter Parteien neben der früheren traditionellen konservativen Volkspartei in Europa gar kein seltenes Phänomen ist. In Österreich, in Italien, in Frankreich, in Belgien und auch in den skandinavischen Ländern ist es überall ge-schehen  mit sehr, sehr unterschiedlichen Hintergründen.

Interessant sind vor allem die Entwicklungen in Skandinavien. Sie haben wohl auch am meisten mit den Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland zu tun. Denn dort sind solche rechten Parteien entstanden, obwohl es eigentlich keine sozialen Probleme gibt, die das erklärbar machen. Norwegen zum Beispiel, in der die Fort-schrittspartei in den letzten beiden Parlamentswahlen stabil bei 15 Prozent der Stimmen lag. Norwegen verzeichnet das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Europa. Das Land hat keine Staatsschulden, es hat einen ausgebauten Sozialstaat  man könnte sagen, es ist ein Land, das eigentlich überhaupt keine Probleme hat.  Trotz-dem entsteht eine solche Partei und hat Erfolg.

Oder Dänemark: Das Wahlergebnis für die  Dänische Volkspartei von Pia  Kjaers-gaard, 12 Prozent, oder die 31 Prozent für die rechtsliberale Venstre-Partei von An-ders Fogh Rasmussen, bedürfen ebenfalls einer Wertung. Auch Dänemark ist ein Land ohne nennenswerte Probleme. Insofern müssen  wie gesagt  gerade die Entwicklungen in Skandinavien für uns Deutsche interessant sein, wenn wir erörtern wollen, ob bei uns, ob in mehreren Bundesländern oder gar auf Bundesebene so et-was auch geschehen kann.

Gerade für uns Hamburgerinnen und Hamburger ist der Blick in den Norden interes-sant. Denn auch die Stadt Hamburg ist ja eigentlich eine, in der es  neben dem ge-nannten wichtigen Feld  Umgang mit  Kriminalität - keine wirklichen Probleme gibt. Die wirtschaftliche Lage ist gut und sogar besser als in der Bundesrepublik. Das Wirtschaftswachstum entwickelt sich überdurchschnittlich, die Arbeitslosigkeit ist ü-berdurchschnittlich zurück gegangen. Hamburg ist eine der beiden reichsten Regio-nen Europas, im steten Wettstreit mit den inneren Bezirken Londons. Und trotzdem konnte auch hier eine solche Parteibildung erfolgreich sein.
Allerdings: Selbst vor diesem für Sozialdemokraten traurigen Hintergrund ist für uns Erfreuliches geschehen. Die SPD hat die Modernisierung der Gesellschaft erfolgreich als Partei bewältigt. Hamburgs Sozialdemokratie ist weit weg von einer auf ein Milieu festgelegten Partei, wie sie es in den 50er und 60er Jahren noch gewesen ist. Waren vor 10, 20 Jahren noch unzählige Vorhersagen zu lesen, in denen der SPD nicht zu-getraut wurde, den Spagat zwischen den vielen von ihr zu integrierenden Milieus zu schaffen, so ist gerade das in Hamburg gelungen. Hamburgs SPD ist nicht nur mit Abstand die stärkste Partei, sie ist auch die einzig verbliebene Volkspartei der Stadt.

35 Prozent! 35 Prozent mehr oder weniger bei Jungen, Mittelalten und Alten. 35 Pro-zent bei Hauptschülern, Realschülern, Abiturienten und Hochschulabsolventen. 35 Prozent bei Arbeitern  da ein bisschen mehr  Angestellten, Beamten  jedenfalls über 30 Prozent ist sie schon gekommen -  und selbst bei den Selbstständigen sind die 30 Prozent zu schaffen. Die neue Mitte Hamburgs wählt SPD. Deutlich wird das auch an den Wahlergebnissen in den Innenstadt-Quartieren St. Georg, St. Pauli, Al-tona-Altstadt, Altona-Nord, wo die SPD auf Anteile über 35 Prozent kam und auch in Ottensen, Harvestehude oder Barmbek. Überall dort hat die SPD an Stimmen hinzu gewonnen.

Besonders pikant ist, dass das eben auch im Stadtteil St. Georg gelungen ist, der in diesem Wahlkampf zu einer besonderen Berühmtheit gelangt ist. Hier hat die SPD fast sechs Prozent dazu gewonnen. Gut ausgebildete, berufstätige Frauen sind in großer Menge zur sozialdemokratischen Partei geströmt. Um ihre Zukunftsfähigkeit muss sich Hamburgs SPD also keine Sorgen machen.

Allerdings  trotz dieser Tatsache und trotz der Tatsache, dass keine Stimmen verlo-ren wurden  wird sie noch deutlich zulegen müssen, um auch dort, wo jetzt Stimmen verloren gegangen sind, über 40 Prozent zu kommen.

Der Blick nach Europa zeigt, es sind wohl die Identitätskrisen in der Moderne, es ist die Verunsicherung, die die Menschen zur Wahl neuer rechter Parteien treibt.

Insofern ist es spannend herauszufinden, ob dies auch in Deutschland passieren kann. Natürlich muss auch diskutiert werden ob die Schill-Partei, nun einmal gegrün-det, die Partei sein kann, die eine solche rechtspopulistische Parteigründung bun-desweit darzustellen vermag. Bisher jedenfalls stellt Deutschland einen Sonderfall dar, in dem solche rechten Parteigründungen erfolglos geblieben sind.

Wir haben Professor Decker gebeten, uns einen Überblick zu geben über die europä-ischen Entwicklungen und natürlich auch ein paar Gedanken zur möglichen deut-schen Entwicklung auszusprechen.

Im Anschluss an diesen längeren Beitrag wollen wir mit renommierten  Parteienfor-schern und einer ebensolchen Parteienforscherin diskutieren. Es soll dabei um die Frage gehen, ob jetzt die Gründung einer rechtspopulistischen Partei wie der Schill-Partei in Deutschland passieren kann.

 Rechtspopulismus auf dem Vormarsch? , so lautet der Titel unserer Tagung. Am Ende dieses Titels steht ein Fragezeichen. Wenn der Rechtspopulismus sich auf dem Vormarsch befindet, dann erhoffen wir uns heute Antwort auf die Frage, wohin dieser Marsch geht und  natürlich  ob er aufgehalten werden kann. 

In der Diskussion wird es hoffentlich auch kontrovers zugehen. Wir haben uns Mühe gegeben, nicht nur Männer diskutieren zu lassen, obwohl die Recherche ergeben hat, dass die Politikwissenschaft hier einen sehr einseitigen Zulauf hat.

Männer spielen bei diesem Thema eine besondere Rolle, weil ja ganz erkennbar vorwiegend ältere Männer von rechten Parteien fasziniert sind. Es bleibt also zu erör-tern, ob die Verunsicherung von Männern angesichts selbstbewusster berufstätiger Frauen ein Grund für die Wahl rechter Parteien sein kann.

Wir hoffen, mit dieser Veranstaltung einen interessanten Einstieg in eine wichtige Diskussion für unser Land zu leisten. Diese Diskussion wird nicht mit dieser Veran-staltung abgeschlossen sein. Wir hoffen aber, einen Beitrag zu unserer eigenen und zu Ihrer Orientierung leisten zu können und eine Hilfestellung für die notwendige Dis-kussion der nächsten Zeit.

Es ist selten so, dass ein Sozialdemokrat einig ist mit Unions-Politikern. Aber heute ist es so. Was Herr Beckstein sagt, was Herr Stoiber sagt, was Herr Goppel sagt, was Herr Koch sagt, was Herr Wulf sagt und was CSU-Landesgruppenchef Ram-sauer sagt, das gibt auch meine Befürchtungen wieder:

Ole von Beust hat sich des Steigbügelhalters Schill bedient, um Bürgermeister zu werden. Und Ole von Beust hält seinerseits die Steigbügel für einen möglichen  bun-desweiten Erfolg einer Partei rechts von der CDU. Und möglicherweise ist es dieser CDU-Politiker, der die Verantwortung dafür tragen wird, dass die CDU bundesweit ihren Charakter als eine Volkspartei verliert. Als eine Volkspartei, die deutlich über 30 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen kann.

Ich wünsche Ihnen einen interessanten Tag und bitte Herrn Professor Decker um seinen Beitrag.

Broschüre "Rechtspopulismus auf dem Vormarsch"

"Rechtspopulismus auf dem Vormarsch?" - das ist mit Blick auf Harnburg, mit Blick auf die Ergebnisse der Bürgerschaftswahl am 23. September 2001 und mit Blick auf den Erfolg der "Schill-Partei" eine hochaktuelle politische Frage. "Rechtspopulismus auf dem Vormarsch?" - das fragt man sich auch angesichts der Expansionspläne der Schill-Partei und vor dem Hintergrund der Stimmengewinne rechtspopulistischer Parteien in Skandinavien. "Rechtspopulismus auf dem Vormarsch?" - So lautete das Thema einer Tagung der SPD Hamburg am 1. Dezember 2001.
 
Als Referenten konnte die Hamburger SPD hochkarätige Experten aus der Politik-, Parteien- und Extremismusforschung gewinnen:

Prof. Dr. Frank Decker;
Universität Bonn, Autor des Buches "Parteien unter Druck - Der neue Rechtspopulismus in den westlichen Demokratien"
Dr. Ursula Birsl;
Jugend- und Rechtsextremismusforscherin, Universität Göttingen
Dr. Tobjas Dürr;
Parteienforscher, Chefredakteur "Berliner Republik"
Priv.-Doz. Dr. Karl-Rudolf Korte;
Medien- und Wahlforscher, Universität Köln / Universität München
Prof. Ulrich von Alemann;
Parteien und Verbändeforscher, Universität Düsseldorf
Sie diskutierten die Ursachen des aktuellen Trends zu rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen, die Faktoren, die das Aufkommen solcher Bewegungen ermöglichen und schließlich notwendige Schritte, um den Marsch des Rechtspopulismus zu stoppen oder zumindest zu verkürzen.

Die 50seitige Dokumentation können Sie bei der SPD Hamburg pressestelle.hamburg@spd.de kostenlos bestellen.