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27.09.2008

Rede anlässlich der Konferenz "Soziales Europa zwischen Anspruch und Wirklichkeit"

Liebe Genossinnen und Genossen,
liebe Gäste aus dem In- und Ausland,
meine Damen und Herren,

das Beschwören der sozialen Dimension Europas findet sich in fast jeder Rede einer Politikerin oder eines Politikers in Deutschland. Es besteht die Gefahr, dass der Schwur durch pure Wiederholung zur leeren Formel wird, der niemand mehr Glauben schenkt.

Deshalb müssen wir die Wirklichkeit beschreiben und wo nötig ändern. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind dazu besonders prädestiniert.

Es war ein langer Weg von unserer Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa aus dem Jahr 1925 bis hin zum Europa der 27 im Jahr 2008. Eine pragmatische sozialdemokratische Politik beherzigt das Wissen, dass das Ökonomische und das Soziale eng zusammengehören.

Dafür braucht es aber einen politischen Rahmen für den Markt. Diesen Rahmen kann angesichts globalisierter Wirtschaftsstrukturen heutzutage die Europäische Union mindestens regional begrenzt bereitstellen.

Ein einiges Europa, in dem die Staaten zusammenarbeiten, liegt in unser aller Interesse.

Ein einiges Europa ist die Grundlage dafür, dass wir auch in den kommenden Jahren als gute Nachbarn auf diesem kleinen Kontinent leben werden. Ein einiges Europa ist die Voraussetzung für eine Zukunft nicht nur in Frieden, sondern auch in Wohlstand und Prosperität.

Deshalb ist die soziale Dimension Europas auch so wichtig. Denken Sie mal einen Moment darüber nach, was passiert wäre, wenn wir ohne EU in eine volle Standortkonkurrenz gegangen wären. Dann stünden wir hier in Deutschland unter einem anderen Druck auf unsere Löhne und Standards.

Nehmen wir das Beispiel Lohnsteigerungen. Der gemeinsame Binnenmarkt wirkt wie ein Katalysator für die Lohnentwicklung in vielen europäischen Nachbarländern. Schon heute finden manche deutschen Bauern keine Saisonkräfte mehr, weil die nach Spanien oder Großbritannien gehen, wo die Verdienstaussichten besser sind. Und auch in den Heimatländern zeigt die Entwicklung klar nach oben: In Polen beispielsweise sind 2007 die Löhne um rund 10 Prozent gestiegen. Bis 2012 rechnen polnische Ökonomen mit 40 bis 50 Prozent Lohnsteigerung, das entspräche 7 bis 8 Prozent pro Jahr. In Deutschland lag die Bruttolohnentwicklung im letzten Jahr bei gerade einmal 1,4 Prozent. Auch wenn wir künftig mehr erreichen werden was ich für vernünftig hielte , an die polnischen Steigerungsraten werden wir nicht heranreichen. Das heißt: Die Lücke schließt sich. Das Lohngefälle wird flacher. Die Konkurrenz über Löhne geringer. Das ist ein konkretes Beispiel für den Erfolg des sozialen Europas.

Die Zusammenarbeit auf einem gemeinsamen Binnenmarkt führt dazu, dass das soziale Schutzniveau höher wird. Natürlich erreichen wir nicht überall das deutsche Niveau. Aber wenn die Qualität zum Beispiel unserer Produkte oder Dienstleistungen weiter gut ist, muss uns angesichts von made in Germany nicht bange sein, wenn wir unser eigenes soziales Niveau über dem europäischen halten.

In Europa können wir mit guter Kooperation ein Race to the bottom verhindern. Mit gemeinsamen Initiativen ist ein sozialer Markt machbar. Europa hat das Zeug dazu, die weltweit wettbewerbsfähigste Wirtschaftsregion zu werden.

Ich will einige Beispiele ins Gedächtnis rufen. Es kann ja schließlich nicht sein, dass im Europa der 27 immer 20 bis 25 Staaten bei jeder neuen Initiative das Gefühl haben, ihre erreichten Sozialstandards würden geschliffen. Denn dem ist nicht so. Europa hat bereits Wichtiges geleistet für das Soziale:

Europa hat den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Regelungen zum Mindesturlaub oder zur Höchstarbeitszeit gebracht. Europa hat die Grundlage dafür geschaffen, dass Teilzeitbeschäftigte nicht schlechter gestellt werden dürfen als Vollzeitbeschäftigte. Hier sind Regelungen erlassen worden, die den Jugendarbeitsschutz präzisieren und unter anderem Mindestvorschriften zu Arbeitszeit und Ruhezeiten machen. Hier sind Mutterschutz und Elternurlaub mit Mindeststandards so abgesichert worden, dass Arbeitnehmerinnen geschützt werden und gleiche Wettbewerbsbedingungen herrschen. Hier sind zahlreiche sehr konkrete Richtlinien zum Arbeitsschutz formuliert worden, die den Umgang mit gefährlichen Stoffen, Strahlen oder Geräten am Arbeitsplatz präzise normieren. Hier sind mit der Entsenderichtlinie die Fundamente für vernünftige Mindestlohnregelungen gegossen worden, durch welche die Dienstleistungsfreiheit vernünftig begleitet werden kann, um Lohndumping-Wettbewerb zu verhindern. Die Kommission treibt uns Deutsche explizit an, endlich diese Instrumente so zu nutzen, wie es möglich wäre.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir haben es geschafft, die Idee der Mitbestimmung in Europa zu verankern. Damit ist einer der Eckpfeiler des deutschen Modells der sozialen Marktwirtschaft über unsere Grenzen hinaus tragfähig geworden. Ohne Europa wäre es undenkbar, dass die Arbeitnehmer bei grenzüberschreitenden Fusionen beteiligt werden. Diese Regelung müssen wir jetzt ergänzen mit der immer wieder angekündigten, aber noch ausstehenden Richtlinie zur Sitzverlegung von Unternehmen. Dann werden wir noch besser in der Lage sein, einen Wettbewerb der Unternehmen zum Nachteil der Arbeitnehmer zu verhindern.

Ganz wichtig ist auch die 1994 beschlossene Richtlinie zum Europäischen Betriebsrat der ersten eigenständigen Institution des kollektiven Arbeitsrechts auf Gemeinschaftsebene. Mit ihr wird ein Mindestmaß an Information und Konsultation gesichert. Kürzlich hat die Kommission einen Vorschlag für eine Revision dieser Richtlinie vorgelegt. Demnach sollen die Informationsrechte der Europäischen Betriebsräte erweitert werden.

Das klingt nicht bedeutsam, ist aber ein wichtiger Fortschritt: Der Fall Nokia, wo eine Belegschaft vom Management völlig überrumpelt wurde, darf sich nicht wiederholen. Hier Sicherheitsnetze einzuziehen, ist auch eine europäische Aufgabe. Viele weitere soziale Initiativen in Europa wären zu nennen ich will nur noch einige wenige aufrufen:

Der Europäische Sozialfonds, aus dem seit 1957 soziale Projekte in den Mitgliedstaaten gefördert werden. Die Verordnung zur Freizügigkeit von 1971, die sicherstellt, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Ansprüche auf soziale Sicherheit behalten, wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt sind. Das Verbot mündlich abgeschlossener Arbeitsverträge. Oder auch die klaren Vorstöße im Kampf gegen jede Form von Diskriminierung und gegen Einschränkungen der individuellen Freizügigkeit. Wir haben diese Richtlinien jetzt umgesetzt. Wer sich den erbitterten Widerstand der Union gegen diese Regelungen noch einmal vergegenwärtigt, der kann kaum mehr davon ausgehen, dass Europa nicht auch sozial ist.

Seit Verabschiedung der Lissabon-Strategie steht das Soziale gleichberechtigt neben der wirtschaftlichen und beschäftigungspolitischen Entwicklung. Das ist eine wichtige Entwicklung, die wir weiter vorantreiben müssen, wenn es um die Zeit nach 2010 und um eine neue europäische Entwicklungsstrategie gehen wird.

Sehr geehrte Damen und Herren,

allerdings ist es in den letzten Jahren schwieriger geworden, im Rat substanzielle neue sozialpolitische Regelungen zu verabschieden. Die jahrelangen Verhandlungen über Richtlinien zu Arbeitszeit, Leiharbeit oder Mitnahmemöglichkeiten bei der Altersvorsorge zeigen, dass sich viele Mitgliedstaaten schwer tun. Aus unterschiedlichen Gründen: Manche mögen Angst haben, einen Wettbewerbsvorteil aufgrund eines bislang niedrigeren Standards zu verlieren. Andere wiederum sehen eine nationale soziale Errungenschaft in Gefahr. Allerdings zeigen die Beispiele Leiharbeit und Zeitarbeit auch, dass es geht: Es gibt immer wieder den Willen und die Kraft zur Einigung! Aber es braucht eben viel Willen und viel Kraft. In den letzten Jahren ist es deshalb auch viel versprechend gewesen, sich im Rahmen der so genannten Offenen Methode der Koordinierung (OMK) gemeinsam über soziale Ziele zu verständigen, die dann jeder Mitgliedstaat einzeln für sich umsetzt.

Die Erfahrung zeigt, dass wir voneinander lernen können in Europa. Und dass wir gemeinsam daran arbeiten können, gemeinsame Probleme auch als gemeinsame Herausforderungen zu erkennen und entsprechend anzugehen. Das Elterngeld ist ein gutes Beispiel dafür. Hier haben wir von unseren in diesem Fall skandinavischen Nachbarn gelernt. Die Koordinierung lebt davon, dass die Staaten sich mit guten Beispielen gegenseitig vorantreiben.

Ein Beispiel sind die Ziele bei den Beschäftigungsquoten: 70 % insgesamt, 60 % bei den Frauen und 50 % bei den Älteren diese Vorgaben sind auch für uns in Deutschland ein Ansporn. Wir mussten und müssen uns zum Teil noch ein wenig strecken, um sie bis 2010 zu erreichen.

Auch die Gemeinschaftsstrategie zum Thema Arbeitsschutz setzt ehrgeizige soziale Ziele. Bis 2012 wollen wir alle in Europa die Zahl der Arbeitsunfälle um 25 Prozent senken. Solche Initiativen markieren einen zweiten Weg, Europa sozial zu gestalten neben den nach wie vor nötigen legislativen Regelungen.

Ähnliches gilt übrigens auch für den sozialen Dialog, den wir in Europa organisieren wollen. Wir Deutschen sind bekannt dafür, dass wir Arbeitgeber und Gewerkschaften mit am Tisch haben wollen, wenn wir über Arbeit und Soziales in Europa reden.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir werden Zustimmung für Europa nur dann wachsen lassen können, wenn es uns gelingt, den sozialen Fortschritt spürbar werden zu lassen.

In diese Richtung wollen wir weitergehen auch über das Jahr 2010 hinaus. Die Kommission hat mit ihrer erneuerten Sozialagenda für Chancen, Zugang und Solidarität im 21. Jahrhundert einen guten Weg gewiesen, der das ganze Spektrum sozialpolitischer Initiativen umfasst.

Wenn wir über Anspruch und Wirklichkeit eines sozialen Europas in der Zukunft reden, dann geht es nämlich nicht nur im engeren Sinne um Sozialpolitik. Sondern dann müssen wir uns fragen: Spielt das Soziale in Europa so eine umfassende Rolle, wie wir das wollen? Also auch in Fragen der Wirtschaft, der Umwelt, der Bildung, der Kultur, der individuellen Freiheitsrechte. Werden alle diese Bereiche auch tatsächlich gegen die sozialen Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union abgewogen? Ist das Soziale hier ein gleichberechtigter Maßstab?

Die normative Antwort auf diese Frage, also der Anspruch, ist durch den Reformvertrag von Lissabon und die Grundrechte-Charta weitgehend geklärt: Der Vertrag betont die Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und Diskriminierungen und die Förderung sozialer Gerechtigkeit und sozialen Schutzes.  Und in der Grundrechte-Charta stehen grundlegende Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie ein umfassendes Recht auf soziale Sicherheit. Sie werden durch den Vertrag rechtskräftig. Außerdem und das ist vielleicht das Wichtigste wird durch eine Sozialklausel sichergestellt, dass bei allen Maßnahmen der EU soziale Belange zu beachten sind. Das alles haben wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in Europa erkämpft und wir werden weiter dafür eintreten, dass Europa auf diesem Fundament sozial weiterentwickelt wird.

Soziale Verträglichkeit kann zu einem wichtigen Prüfstein in der europäischen Politik werden. Übrigens auch für den Europäischen Gerichtshof, der das Soziale als eigenständigen und gleichberechtigten Abwägungsmaßstab anerkennen muss, der aus demokratischen Bewegungen und Entscheidungen herrührt.

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Grundlagen sind also gelegt. Allerdings ist die empirische Antwort auf die Frage, ob das Soziale auch in der Wirklichkeit ein gleichberechtigter Maßstab ist, differenzierter. Denn natürlich lohnt sich Europa faktisch für seine Bürgerinnen und Bürger schon heute. Unser Lebensstandard wäre geringer ohne die EU. Zugleich aber besitzen wirtschaftliche Grundfreiheiten in Europa immer noch ein Übergewicht gegenüber sozialen Erwägungen, das heißt auch gegenüber Fragen der Gerechtigkeit und der Solidarität. Aber es geht voran. Der Ausgleich klappt immer besser.

Die zentrale sozialdemokratische Aufgabe wird es daher sein müssen, die normativ angelegten Potenziale und die faktischen positiven Entwicklungen zusammenzunehmen und weiterzuentwickeln zu einer überzeugenden Gesamtkonzeption von Europa, in der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in einem Gleichklang schwingen. In unserer Ratspräsidentschaft haben wir damit begonnen, indem wir den Fokus der Debatte über das Soziale Europa erweitert haben, um die zweifellos vorhandenen positiven sozialen Effekte Europas weiter zu verstärken.

Europa ist der einzige Weg, auf dem wir Sozialstaat und soziale Marktwirtschaft für das 21. Jahrhundert dauerhaft zukunftsfest machen können. Das ist wenn man so will der historische Auftrag an die Politik unserer Zeit.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!