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Symbolfoto: Olaf Scholz
Photothek
23.05.2023 | Berlin

Rede anlässlich des 160-jährigen Jubiläum der SPD

Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Gäste!
Liebe Saskia, lieber Lars, lieber Kevin!
Und natürlich: Liebe Genossinnen und Genossen!

160 Jahre deutsche Sozialdemokratie – das ist eine lange Zeit. Das ist auch eine stolze Zeit. 

Monarchie, die Weimarer Republik, zwei Diktaturen, die Bonner Republik und schließlich die in Frieden und Freiheit vereinigte Bundesrepublik Deutschland – 
das alles hat die Sozialdemokratie in diesen 160 Jahren erlebt, überwunden oder zum Guten mitgeprägt. 

Eine vergleichbare Geschichte kann keine andere Partei in Deutschland vorweisen. Wir haben allen Grund, auf unsere Geschichte stolz zu sein.

Nun halte ich diese Rede aber nicht bloß als Sozialdemokrat, sondern auch als sozialdemokratischer Bundeskanzler unseres Landes. Der Rückblick auf diese 160 Jahre ist dabei nicht mein zentrales Thema. Mir geht es - frei nach Willy Brandt - um die Reformen, für die wir heute kämpfen, damit wir morgen besser leben können.
Und darum will ich darüber sprechen, warum es gut ist für unser Land - und auch für unsere Partei -, dass wir es sind, die in dieser Zeit die Bundesregierung führen.
Aber wenn ich darüber aus Anlass von 160 Jahren Sozialdemokratie spreche, dann ist es doch hilfreich, das alles historisch ein wenig einzuordnen.Auffällig ist nämlich eines: 

Im Laufe ihrer 160 Jahre hat die Sozialdemokratie in Deutschland insgesamt nur ein knappes Vierteljahrhundert den Regierungschef gestellt: gute drei Jahre lang in den 13 Jahren der Weimarer Republik, und gute 20 Jahre lang in den bisher 74 Jahren der Bundesrepublik. Dafür gibt es Gründe.

Im Kaiserreich waren die Sozialdemokraten die „Reichsfeinde“, die Partei der Systemopposition, von Reichskanzler Bismarck mittels der „Sozialistengesetze“ unterdrückt.

Später dann, in der NS-Diktatur war die Sozialdemokratie verboten und wurde verfolgt, in der Sowjetisch besetzen Zone, der späteren DDR, wurde sie schon 1946 mit der KPD zwangsvereinigt zur SED.

Dennoch war der politische und gesellschaftliche Einfluss der Sozialdemokratie in ihrer Geschichte groß. Das galt schon für die Zeit des Kaiserreichs. Aus Furcht vor der wachsenden Sozialdemokratie verhängte Bismarck eben nicht nur die Sozialistengesetze.
Aus Furcht vor der wachsenden Sozialdemokratie legte er auch die Grundlagen des deutschen Systems der Sozialversicherungen: Krankenversicherung, Unfallversicherung, Rentenversicherung. Überhaupt erst in der Weimarer Demokratie – in sehr, sehr stürmischer Zeit – geriet die Sozialdemokratie erstmals in die Lage, Regierungsverantwortung für die Republik zu tragen.

In den 13 Jahren der ersten deutschen Republik stellte die SPD gleich viermal den Reichskanzler – aber insgesamt dauerte das wenig mehr als drei Jahre.

Die SPD war – mit Ausnahme der kleinen linksliberalen DDP – die einzige Partei, die als „Republikpartei“ fest hinter der Demokratie von Weimar und ihrer Verfassung stand. 

Mit Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann, Gustav Bauer und Hermann Müller stellte sie viermal den Reichskanzler; als erster Präsident der ersten deutschen Republik amtierte – bis 1925 – Friedrich Ebert.

Ich will hier aber auch ausdrücklich erinnern an einen großen Sozialdemokraten, der viel zu oft vergessen wird. Das war Otto Braun.
Otto Braun amtierte von 1920 bis 1932 fast durchgängig als Ministerpräsident des demokratischen Freistaates Preußen. Preußen, das war das mit Abstand das größte Land der Weimarer Republik – es reichte von Aachen bis Königsberg, von Flensburg bis Trier. Fast 40 Millionen Einwohner! Und der Fläche nach fast so groß wie unsere heutige Bundesrepublik! 

Da wo ich heute lebe, in Potsdam, gibt es seit 2013, gleich neben dem Landtag, den Otto-Braun-Platz. Da gibt es eine Büste von Otto Braun, auf der steht: 
„Als letzter demokratisch gewählter Ministerpräsident sorgte er dafür, dass Preußen bis zuletzt ein ‚Republikanisches Bollwerk‘ gegen den aufkommenden Nationalsozialismus blieb.“

Genossinnen und Genossen! 
Sehr geehrte Damen und Herren!

Es ist gut, dass auf diese Weise an den großen Sozialdemokraten Otto Braun erinnert wird. Politische Verantwortung und demokratischer Anstand unter widrigsten Bedingungen - das ist ein wichtiger Teil unserer langen Geschichte. 

Und darauf können wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten immer besonders stolz sein!

Historisch war die Sozialdemokratie seit dem Kaiserreich und August Bebel tief geprägt von Vorstellungen einer vollkommen anderen, besseren, utopischen Zukunftsgesellschaft.

Unter Führung von Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer stand die Partei zunächst in schroffer Opposition zu Adenauers „CDU-Staat“, wie manche Sozialdemokraten die junge Republik zunächst nannten.

Die SPD blieb zunächst die Klassenpartei der Industriearbeiterschaft, die Öffnung zur breiten Mitte der Gesellschaft fiel ihr schwer.

„Der Weg zur Staatspartei“ heißt das Buch, das der Historiker Kurt Klotzbach über diesen Veränderungs- und Öffnungsprozess geschrieben hat - und der Weg, den er nachzeichnete, war ein langer Weg. Der wichtigste Markstein dabei war der Godesberger Parteitag von 1959 und das neue Godesberger Grundsatzprogramm.

Aber es dauerte noch einmal ein Jahrzehnt, bis mit Willy Brandt erstmals ein Sozialdemokrat Bundeskanzler wurde.


Das historisch begründete Spannungsverhältnis zwischen hohem programmatischem Anspruch – einige würden sagen: utopischem Überschuss – und der Notwendigkeit, pragmatisch zu handeln, hat die Sozialdemokratie immer geprägt.

Dieses Spannungsverhältnis kennzeichnete die Amtszeiten von Willy Brandt und Helmut Schmidt – und auch noch die von Gerhard Schröder. 

Aber: Gerade dieses Spannungsverhältnis macht unsere Partei aus, und es unterscheidet uns zum Besseren von politischen Formationen, die eigentlich gar nichts so richtig vorhaben außer Status quo und „Weiter so“. Entscheidend ist nur, dass diese Spannung immer eine produktive Spannung sein sollte.
Der Pragmatiker Helmut Schmidt hatte sehr Recht mit seinem Hinweis: 
„Politik ist nicht nur Denksport, Politik ist auch Handeln.“
Aber er lag, wie ich finde, nicht ganz richtig mit seiner berühmten – auf Willy Brandt gemünzten – Spitze, wer Visionen habe, der solle doch besser zum Arzt gehen.
Schmidt selbst hat sich später von dieser Aussage distanziert: 
„Es war eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage“, hat er dazu gesagt.
Und in der Tat: Er ist damals wohl etwas übers Ziel hinausgeschossen. Denn die Sozialdemokratie braucht genau diesen Dualismus aus praktischem, tatkräftigem Zupacken im Hier und Jetzt – und großen Zielen, die wir gemeinsam verfolgen.

Genau dieser Zweiklang ist unser Lebenselixier.
Er treibt uns an. 
Er hält uns jung.
Und er macht uns, wenn wir es richtig anstellen, auch attraktiv.

An genau diesem Punkt stehen wir heute wieder.
Wir regieren, wir entscheiden, wir handeln. 
Praktisch, tatkräftig, zuverlässig. 
Nicht nur im Bund. 
Auch in Bundesländern, in Städten, Kreisen und Gemeinden. 
Überall in unserem Land. 
Tag für Tag.
So haben wir die Covid-Pandemie bewältigt. 

So haben wir unser Land sicher und warm durch den vorigen Winter gebracht, nachdem Russland mit seinem imperialen Eroberungskrieg gegen die Ukraine die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung der vergangenen Jahrzehnte über den Haufen geworfen hat.

Nie wieder sollten in Europa Grenzen mit Gewalt verschoben werden. 

Darüber waren sich in Europa alle Staaten einig – auch dank sozialdemokratischer Entspannungspolitik, dank der Politik von Willy Brandt und Helmut Schmidt, die in den siebziger Jahren die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975 zur Schlussakte von Helsinki möglich machte.

Die Nichtanwendung von Gewalt, die Unverletzlichkeit von Grenzen, die territoriale Integrität von Staaten, das Selbstbestimmungsrecht der Völker - alle diese Prinzipien sind in der Schlussakte von Helsinki festgeschrieben. 

Für alle diese Prinzipien stehen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aus tiefer Überzeugung ein. Und alle diese Prinzipien hat Wladimir Putin brutal in den Wind geschlagen.

Darum ist es gerade aus sozialdemokratischer Perspektive so folgerichtig, ja unausweichlich, dass wir die ukrainische Nation in ihrem tapferen Verteidigungskampf um ihre Freiheit und ihre Selbstbestimmung als europäische Nation mit aller Kraft unterstützen:

Humanitär. 
Wirtschaftlich. 
Mit Waffen. 
Und vor allem: Auf Dauer! 

Diesen Krieg gegen die Ukraine und auch gegen alle Werte und Prinzipien, für die unsere Partei seit 160 Jahren steht – diesen Krieg darf und wird Russland nicht gewinnen.
Dieses bittere Kapitel der Geschichte unseres Kontinents, heraufbeschworen von Wladimir Putin in seinem imperialistischen Wahn, wird damit enden, dass sich die freie Ukraine als vollwertiges Mitglied der Europäischen Union anschließt. 
In diesem großen Streit um die Zukunft der europäischen Ukraine und die Zukunft Europas muss die Sozialdemokratie ohne Wenn und Aber Flagge zeigen. 

Hier geht es auch um unsere Grundwerte und Prinzipien.

Zugleich aber wird uns Russlands Krieg nicht davon abhalten, die historische Aufgabe anzugehen, die jetzt vor uns liegt. 

Das ist die klimagerechte Transformation unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft.

Schon bis 2030 werden vier Fünftel der Energie, die wir verbrauchen, aus erneuerbaren Quellen stammen. Das sind noch sieben Jahre.

Bis 2045 soll Deutschland vollständig klimaneutral sein. Das sind noch 22 Jahre.
Und gleichzeitig soll Deutschland ein starkes Industrieland bleiben, mit Wohlstand und guter Arbeit für alle, angetrieben von erneuerbarer Energie – widerstandsfähiger und wetterfester, resilienter und weniger abhängig von einzelnen Ländern als bisher.

Zwei Irrtümern will ich ausdrücklich widersprechen:

Zum einen: Das ist kein „Thema“ einer ganz bestimmten Partei, wie manche immer noch meinen – das ist eine existenzielle Transformation. 
Denkt ans Ahrtal vor zwei Jahren!
Guckt Euch die Bilder an aus der Emilia-Romagna in Italien gerade jetzt in diesen Tagen!

Das hört nicht mehr auf!

Und deshalb: Ob es uns gelingt, die menschengemachte Klimakrise zu stoppen oder nicht – davon hängt die Art und Weise des menschlichen Lebens auf der Erde ab. 

Zum anderen: Die Transformation, die vor uns liegt - das ist auch nicht nur eine technische oder technokratisch zu bewältigende Transformation. 

Denn auch das glauben ja manche: dass es bei diesem Umbau vor allem um Instrumente geht, um Windräder und Anlagen für Elektrolyse oder Biomasse.

Ja, natürlich, um das alles geht es auch.

Wir müssen pro Tag vier bis fünf Windräder bauen und neue Solaranlagen so groß wie 40 Fußballplätze. 
Wir brauchen Tausende Kilometer neuer Stromleitungen – und noch vieles, vieles andere. Alle diese technischen Fragen müssen wir lösen, alle diese Fragen können wir lösen, alle diese Fragen werden wir lösen.

Eine gute klimaneutrale Zukunft ist möglich, mit Wohlstand und Wachstum, mit Investitionen und vielen, vielen guten neuen Arbeitsplätzen.  

Unter einer Voraussetzung. 
Unter der Voraussetzung nämlich, dass wir den großen Aufbruch, vor dem wir stehen, auch als großen gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Aufbruch begreifen – als einen Prozess, einen Weg, den wir gemeinsam gehen.

Und zwar alle gemeinsam.

Denn gelingen wird uns dieser große Aufbruch nur dann, wenn alle Bürgerinnen und Bürger die Zuversicht haben können: 


Das geht gut aus! 
Das geht gut aus für mich selbst! 
Das geht gut aus für mein Dorf, meine Stadt, meine Region! 
Das geht gut aus für meine Kinder und für meine Enkel!

Da sind wir noch nicht ganz. 

Manche fürchten sich vor dem Wandel, vor der Veränderung, vor dem Aufbruch. 

Das ist völlig normal und völlig verständlich in einer Gesellschaft, in der es vielen ja nicht schlecht geht und in der viele etwas zu verlieren haben. 

Manche fühlen sich verunsichert, überfordert, bevormundet und belehrt, ja auch angegriffen und geringgeschätzt in ihrer Art zu leben, wenn von Aufbruch und Veränderung die Rede ist.

Manche sind deshalb auch empfänglich für die Parole, dass – angeblich – „früher alles besser“ war. 

„Make America Great Again!“ 
„Take Back Control!
„Hol Dir Dein Land zurück!” 
Again! Back! Zurück! 
„Früher war alles besser“, soll das heißen.

Wir kennen die politischen Mitbewerber, die mit diesen Botschaften hausieren gehen.
Was sie vorgaukeln, ist Sicherheit vor dem Wandel. Aber dieses Versprechen ist trügerisch. Denn diese Leute haben keine einzige praktische Lösung für die Zukunftsaufgaben, vor denen wir stehen.

Und genau hier liegt die spezifische große Aufgabe der Sozialdemokratie in dieser Zeit – und in den kommenden Jahrzehnten.
Wir wissen: Sicherheit durch Wandel und Sicherheit im Wandel – beides gehört zusammen:

Neue Sicherheit, Wohlstand, gute Arbeitsplätze, eine gute Zukunft – das setzt Veränderung voraus. Und wir haben auch einen Plan, wie das Schritt für Schritt funktionieren wird. Aber wir wissen zugleich: Richtige Ziele und ein guter Plan sind nicht genug. Ohne Geländer – ohne Sicherheit im Wandel – werden sich viele Bürgerinnen und Bürger nicht darauf einlassen, den Weg der Transformation zu gehen. Zu diesem Geländer gehört ein kraftvoller und wirksamer Sozialstaat – wer wüsste das wohl besser als wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten?

Dazu gehören aber auch ein gesellschaftliches Klima, dazu gehört eine politische Kultur, die den Prozess der Veränderung erleichtert und ermöglicht. 


Wer genau genug hinschaut, erkennt doch: Viele der Blockaden, der Konflikte, der Verletzungen, der Kränkungen, der Ressentiments in unserer Gesellschaft haben damit zu tun, dass sich Menschen nicht genug wahrgenommen fühlen.

Sie fühlen sich nicht anerkannt, nicht gesehen, nicht gewürdigt – untereinander nicht und auch nicht als Bürgerinnen und Bürger in ihrem Verhältnis zum Staat.

Auch darum lautet mein Plädoyer: 

Die Sozialdemokratie des 21. Jahrhunderts muss einstehen für eine Gesellschaft des Respekts. 

Respekt – das heißt, dass wir uns bei aller Verschiedenheit als Gleiche unter Gleichen wahrnehmen. 

Respekt – das heißt, dass niemand auf andere herabschaut, weil er oder sie sich selbst für stärker hält, für gebildeter, für reicher oder für besonders „woke“. 

Die Kassiererin im Supermarkt, der IT-Experte, der Altenpfleger, die Reinigungskraft, der Paketbote, die Chefärztin, der Zugbegleiter im Regionalexpress - 

jede und jeder einzelne von ihnen wird gebraucht in dieser Zeit, jede und jeder einzelne von ihnen leistet einen unverzichtbaren Beitrag zu unserem Gemeinwesen.

Und sie alle haben Anspruch auf Anerkennung, auf Würde und Respekt, auf anständige Arbeitsbedingungen - denn jeder und jede Einzelne von ihnen ist, wie es der Sozialphilosoph Axel Honneth nennt, „Der arbeitende Souverän“.

Mehr Freundlichkeit und Wohlwollen, mehr Anerkennung und Augenhöhe, übrigens auch mehr Gelassenheit im Umgang mit anderen Ansichten und Lebensstilen – das alles macht eine Gesellschaft des Respekts aus.

Solch eine Gesellschaft des Respekts ist schon für sich genommen eine erstrebenwerte Gesellschaft.

Und schon deshalb muss die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert die Partei in Deutschlands sein, die sich ausdrücklich das Ziel einer „Gesellschaft des Respekts“ auf ihre Fahnen schreibt.

Auf diesem großen Ziel zu beharren hat nichts mit „utopischem Überschuss“ zu tun; auf diesem Ziel zu beharren ist heute das Gebot ganz praktischer politischer Vernunft!

Denn gerade Respekt schafft die Bedingungen dafür, dass Bürgerinnen und Bürger nicht Zuflucht suchen in irgendeiner einer – angeblich – „guten alten Zeit“.

Gerade Respekt schafft die Bedingungen dafür, dass Bürgerinnen und Bürger sich dem zuwenden, wofür die deutsche Sozialdemokratie seit 160 Jahren steht: 

Politik für eine gute Zukunft. 
Politik für eine gute neue Zeit.


Schönen Dank!