Lieber Herr Dr. Wintergerst,
meine Damen und Herren,
auch von meiner Seite noch einmal herzlich willkommen auf diesem herausragend wichtigen Dialogforum! Es ist herausragend wichtig, weil es keine wirtschaftliche Entwicklung, keinen gesellschaftlichen Prozess, keine sicherheitspolitische Frage und keine globale Herausforderung gibt, für die Digitalisierung nicht eine ganz zentrale Rolle spielt. Mir ist bewusst, dass das in diesem Kreis keine revolutionäre Feststellung ist. Seit dem ersten Digital-Gipfel im Jahr 2006 wurde auf diesen Treffen immer wieder festgehalten, wie wichtig es wäre – ich zitiere jetzt mal aus den Veröffentlichungen der vergangenen 18 Jahre –, „den IT-Standort Deutschland zu stärken“, „zukunftsträchtige Wachstumsfelder zu entwickeln“ und „die erfolgskritischen Handlungsfelder anzugehen“. Alles total richtig! Alles absolut nötig!
Die Realität ist allerdings, dass zu lange zu wenig passiert ist. Auf unternehmerischer und staatlicher Seite blieb es zu lange beim „Man müsste einmal“. Der Digitalisierungsrückstand, der so über die Jahre entstanden ist, hat nicht nur unsere Verwaltung ausgebremst und frustriert Bürgerinnen und Bürger, er behindert auch Investitionen und Wachstum.
Keine Angst, das wird jetzt kein Abgesang, insbesondere auch nicht auf unser Land. Davon halte ich nämlich überhaupt nichts! Ein solcher Abgesang ist auch völlig unangebracht, weil die Kräfte, die in unserem Land stecken – Erfindergeist, Innovationskraft und Fleiß – auch heute noch tragen. Aber wir müssen uns ins Zeug legen. Ein ganz wichtiger Faktor dafür ist, unsere Produktivität zu steigern. Mehr Produktivität erreichen wir zum einen, indem wir Arbeit in Deutschland attraktiver machen – für Inländer genauso wie für Leute, die hier bei uns mit anpacken wollen. Deshalb ist es eine durch und durch gute Nachricht, was die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) uns bescheinigt: Aus der ganzen Welt kommen KI-Talente nach Deutschland. Wir liegen mittlerweile auf Platz drei der beliebtesten Länder. Mehr Produktivität erreichen wir zum anderen durch die Digitalisierung selbst. Gerade angesichts unserer demografischen Entwicklung dürfen wir dieses Potenzial nicht länger vernachlässigen. Deswegen haben wir nach mehr als einem Jahrzehnt des Stillstands ein Jahrzehnt der bitter nötigen Modernisierung begonnen.
Mein Ziel ist, dass Deutschland, dass auch insbesondere unsere Industrie bei Zukunftstechnologien ganz vorn mitspielt. Dabei geht es um KI, Quantencomputing oder Virtual Reality, etwa durch die Nutzung von digitalen Zwillingen. Dabei geht es aber auch um Technologien im Bereich der Sicherheit und der Verteidigung, um Kernfusion, um Luft- und Raumfahrt und um Bio- und Umwelttechnologien.
Ohne das anschließende Gespräch vorwegzunehmen, will ich ein paar Gedanken beisteuern zu den drei Begriffen des diesjährigen Mottos: „innovativ, souverän und international“.
Erstes Stichwort: „innovativ“. Innovationen sind das A und O, um als Industrieland auch in Zukunft ganz vorne mitzuspielen. Und das Zeug dazu, wie gesagt, haben wir. Erst kürzlich hat der Bundesverband der Deutschen Industrie den Innovationsindex für 2024 veröffentlicht. Deutschland liegt da – ganz anders, als man das sonst so zeitungslesend und sich umhörend mitbekommt – bei allem Verbesserungspotenzial auf Platz zwei aller großen Industrieländer. Allein Südkorea liegt davor. Alle anderen – darunter die USA, Frankreich, Großbritannien, Japan und China – liegen dahinter. Auch laut OECD ist Deutschland im internationalen Vergleich sowohl bei den öffentlichen als auch den privaten Innovationsinvestitionen international führend.
Als einzige große Volkswirtschaft Europas investieren wir mehr als drei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung. Und deswegen gehören deutsche Unternehmen – von großen Automobilherstellern bis hin zu „hidden champions“ aus dem Mittelstand – zu den innovativsten und innovationsintensivsten der Welt. Auch bei der industriellen Anwendung von KI sind wir schon jetzt besser, als oft behauptet wird.
Aber das reicht nicht. Ich will, dass Deutschland – Wirtschaft und Staat gemeinsam – noch mehr in Zukunftstechnologien investiert. Dabei müssen wir auch mehr selbst machen als machen lassen. Es reicht nicht, nur allein auf Einkäufe bei anderen zu setzen. Die massiven privaten Investitionen, die dafür notwendig sind, wollen wir weiter steuerlich fördern und das auch weiter ausweiten.
In Brüssel machen wir zudem gemeinsam mit Frankreich und anderen Druck, damit wir endlich die europäische Kapitalmarktunion zustande bringen, damit mehr privates Kapital hier nach Europa kommt und nicht erst den Umweg über die USA nehmen muss, damit es hier in Europa investiert wird.
Gleichzeitig möchten wir bei Investitionen aber auch mehr Mut entwickeln. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt wird in den USA dreimal so viel wie in Deutschland als Wagniskapital investiert. So kann das nicht weitergehen. Nur mit mehr Risikoaffinität können wir unsere großen Baustellen angehen. Nur so werden wir besser beim Transfer von der Forschung in die Anwendung. Und nur so werden aus Innovationen auch neue Geschäftsmodelle hier in Deutschland.
Es geht beim Thema Innovation aber nicht nur um die Finanzierung, sondern natürlich muss auch das Umfeld stimmen. Deshalb tragen wir die Altlasten ab, von denen ich eingangs gesprochen habe. Die gute Nachricht ist: Auch in Deutschland geht vieles schneller und einfacher – man muss es nur machen. Mittlerweile ist für 99 Prozent der Haushalte 5G-Netzabdeckung verfügbar. Zwischen Mitte 2022 und Ende 2023 ist der Anteil der Haushalte und Unternehmen, für die ein Glasfaseranschluss vorliegt und verfügbar ist, um mehr als 75 Prozent gestiegen. Wir werden auch Open RAN und 6G weiter voranbringen, indem wir die Forschung und Entwicklung in der Europäischen Union dazu forcieren und uns bei der Netzwerktechnik eine starke Position erarbeiten.
Wir haben uns in den vergangenen drei Jahren einen neuen Rahmen für die Datenökonomie gegeben. Mit dem Mobilitätsdatengesetz und dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz haben wir die Datennutzung in ganz wichtigen Schlüsselsektoren erheblich vereinfacht. Außerdem arbeiten wir gerade an einem Forschungsdatengesetz. Direkte Folge: milliardenschwere Investitionen zum Beispiel in der Pharma- und Biotechindustrie am Standort Deutschland in diesem Bereich und – auch das gehört dazu – ganz ohne staatliche Förderung.
Zweites Stichwort: „souverän“. Mein Anspruch ist, dass wir die digitale Transformation so gestalten, wie es zu uns passt – zu unserer Wirtschaft und zu unseren Werten. Voraussetzung dafür ist aber, dass wir in zentralen Schlüsseltechnologien hier bei uns in Deutschland die notwendigen Kompetenzen haben. Das gilt weit über die strategisch so wichtige Halbleiterindustrie hinaus, die hier bei uns massiv Kapazitäten aufbaut und die wir auch weiter dabei unterstützen werden.
Ein Beispiel dafür ist die Entwicklung von Quantentechnologien: In diesem Monat hat IBM in Ehningen sein erstes Quantenrechenzentrum außerhalb der USA vorgestellt. Im Mai war ich bei der Vorstellung eines vollständig in Deutschland entwickelten Quantencomputers in Hamburg dabei. Auch in München und an anderen Orten in Deutschland werden Quantencomputer entwickelt. Unsere Ausgangsposition ist also – übrigens in diesem Fall auch dank staatlicher Unterstützung – sehr gut.
Um ein unternehmerisch geprägtes Quantenökosystem in Deutschland aufzubauen, braucht es jetzt aber auch strategisch weitsichtige Investitionsentscheidungen und das Engagement von deutschen Unternehmen. Investieren Sie! Es lohnt sich, denn Rechenpower ist schon jetzt ein ganz zentraler Pfeiler unseres wirtschaftlichen Fortschritts. In Jülich werde ich im kommenden Jahr einen der leistungsstärksten Hochleistungsrechner der Welt eröffnen. Amazon, Microsoft und auch europäische Unternehmen investieren in die Rechen- und KI-Infrastruktur in Deutschland. Zusammengenommen ist das ein echter Aufbruch, der den Industriestandort Deutschland krisenunabhängiger und zukunftsfest macht.
Und schließlich drittes Stichwort: „international“. Zunächst einmal gilt: Wir handeln europäisch eng abgestimmt. Ein Meilenstein ist die europäische Regulierung zur künstlichen Intelligenz – die erste umfassende weltweit. Sie soll Schutz bieten, ohne Innovationen abzuschneiden. Microsoft etwa hat sich nicht trotz, sondern gerade wegen dieses klaren Rahmens dafür entschieden, in Deutschland zu investieren. Faire Wettbewerbsbedingungen, die unser gemeinsamer Markt bietet, sind auch weiterhin ein echter Wettbewerbsvorteil. Damit müssen wir dann aber auch einen globalen Anspruch auf Mitgestaltung verbinden.
Bei meinem Besuch der Generalversammlung der Vereinten Nationen im vergangenen Monat haben wir in New York den Global Digital Compact beschlossen. Deutschland und Europa haben sich dabei für eine innovationsfreundliche und vor allem eine zielgenaue KI-Regulierung eingesetzt. Gleichzeitig haben wir darauf gepocht, dass nicht nur staatliche Perspektiven einfließen, sondern auch die Interessen der Wirtschaft, der Anwenderinnen und der Nutzer.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam anpacken für ein zukunftsfähiges und zuversichtliches Deutschland, für ein Land, das Lösungen für alle Herausforderungen aus eigener Kraft entwickeln kann – gemeinsam mit unseren europäischen und internationalen Partnern natürlich. Dass Sie alle – Unternehmen, Verbände, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft – sich bei den Fragen auf diesem Weg auch weiterhin einbringen, ist unerlässlich.
Damit dieses Jahrzehnt der Modernisierung gelingt, braucht es schließlich nicht nur Tempo und Offenheit für Veränderungen, sondern auch eine Verständigung darauf, dass diese Veränderungen zu uns und unseren Werten passen, dass sie das Leben und Arbeiten der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und Europa einfacher und besser machen. Danke, dass Sie genau diese Verständigung durch Ihre vielfältigen Beiträge möglich machen und vorantreiben. Mir ist es wichtig, dass dieser Austausch weitergeht – unter anderem beim Digital-Gipfel 2025, der im kommenden Jahr in Stuttgart stattfinden wird.
Und nun freue ich mich sehr auf das Gespräch. Schönen Dank!