arrow-left arrow-right nav-arrow Login close contrast download easy-language Facebook Instagram Telegram logo-spe-klein Mail Menue Minus Plus print Search Sound target-blank X YouTube
Inhaltsbereich

Detail

Symbolfoto: Olaf Scholz
Photothek
11.06.2023 | Bad Saarow

Rede anlässlich des Ostdeutschen Wirtschaftsforums

Sehr geehrter Herr Nehring,
sehr geehrter Herr Mehne, 
sehr geehrter Herr Russwurm,
liebe Manuela,
liebe Freunde, 
meine Damen und Herren!

„The east German economy finally gets a boom“, so titelte der britische „Guardian“ vor einigen Monaten. Ostdeutschlands Wirtschaft erlebt endlich einen Boom. Die üblicherweise nicht zu Übertreibungen neigende „Financial Times“ berichtete nach dem letztjährigen Ostdeutschen Wirtschaftsforum vom „surprising revival of eastern Germany“, dem überraschenden Wiedererstarken Ostdeutschlands. Ich stimme ja nicht immer allen Medienberichten aus vollem Herzen zu, in diesem Fall aber doch, vielleicht abgesehen von dem Wort „überraschend“; denn wirklich überraschend ist der Boom nicht, den wir derzeit in Ostdeutschland erleben. Dieser Boom ist das Produkt eines zumindest in Europa einmaligen Zusammenspiels von drei Faktoren. Dazu gehören Unternehmen und Beschäftigte mit Transformationserfahrung; dazu gehört die vorausschauende staatliche Förderung von Zukunftsbranchen, und dazu gehören attraktive Standortbedingungen – von der Verfügbarkeit erneuerbarer Energien über Bauland bis hin zu unternehmensnaher Forschung und moderner Infrastruktur. Man muss sich nur einmal einige der industriellen Cluster anschauen, die sich hier in Ostdeutschland in den vergangenen Jahren herausgebildet haben: E-Mobilität in Brandenburg und Sachsen, Bioökonomie und Logistik in Mitteldeutschland, Silicon Saxony, inzwischen der führende Chipstandort Europas, Photonik in Thüringen. Kaum eine Zukunftstechnologie, kaum eine Wachstumsbranche ist hier in Ostdeutschland nicht bereits zu Hause oder sucht gerade hier ein neues Standbein.

Diese Suche erleben wir landauf und landab. Die Milliardeninvestitionen von Tesla in Grünheide, von CATL in Arnstadt, von Bosch in Dresden oder von Siltronic in Freiberg gehen durch die Medien, und alle Beteiligten können zu Recht stolz auf sie sein. Ich selbst war Anfang Mai in Dresden bei der Grundsteinlegung für die neue Halbleiterfabrik von Infineon. Diese Milliardeninvestitionen sind längst keine einsamen Leuchttürme mehr. Erst recht entstehen dort keine verlängerten Werkbänke für Unternehmen anderswo. Wenn wir über die Chip- und IT-Branche rund um Dresden reden, dann sprechen wir inzwischen über 75 000 Hightecharbeitsplätze - Tendenz steigend - in Weltkonzernen, aber eben auch in kleineren und mittelständischen Zulieferern und Start-ups. In Brandenburg spricht man vom Tesla-Effekt. Gemeint ist, dass sich dort auch kleinere Unternehmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette der E-Mobilität ansiedeln, von der Rohstoffgewinnung für Batterien bis hin zum fertigen Auto.

Noch einen Effekt haben die zahlreichen Ansiedlungen. Sie schaffen nicht nur gute, sichere Arbeitsplätze in der Region; sie tragen auch zur Diversifizierung unserer Lieferketten bei. Dabei spielen Rohstoffe eine zentrale Rolle. Deshalb arbeiten wir in der EU mit dem Critical Raw Materials Act daran, Europa eine verlässliche Versorgung mit strategisch wichtigen Rohstoffen zu sichern. Am kommenden Mittwoch verabschieden wir im Kabinett unsere Nationale Sicherheitsstrategie. Auch sie legt genau hierauf einen Schwerpunkt. Wir setzen uns für neue Freihandelsabkommen der EU mit Ländern in Südamerika, Asien und Afrika ein. Denn so optimistisch man mit Blick auf die Entwicklung in Ostdeutschland sein kann, so gibt es natürlich auch Risiken. Die geopolitische Lage zählt dazu. Unsere multipolare Welt mit vielen aufstrebenden Machtzentren ist unübersichtlicher geworden. Wir müssen uns um neue Partnerschaften bemühen, und das tun wir auch.

In der Ukraine tobt weiterhin Russlands brutaler Angriffskrieg mit all den Auswirkungen, die das auch für uns und unsere Wirtschaft hat. Aber erinnern Sie sich daran, wo wir vor einem Jahr standen und worüber wir damals hier in Bad Saarow gemeinsam diskutiert haben? Über Blackouts und die Rationierung von Gas im Winter, über das Ende der Raffinerie in Schwedt. Nichts davon ist so gekommen. Wir haben in kürzester Zeit Flüssiggasterminals installiert und ans Netz genommen. Schwedt hat seit Januar kein Öl mehr aus Russland bezogen und läuft trotzdem stabil, übrigens auch durch eine Pipeline aus Rostock, weil wir uns von Anfang an um den Weiterbetrieb des Standorts gekümmert und gemeinsam mit den Bundesländern ein Sonderprogramm für die Zukunft der ostdeutschen Raffineriestandorte aufgelegt haben.

Um die Gasversorgung gerade in Ostdeutschland auch in Zukunft zu sichern, haben wir den Weg für ein LNG-Terminal im Osten frei gemacht. Das sorgt nicht nur für Zustimmung. Ich habe selbst mit den Rüganern vor Ort darüber diskutiert. Aber wir brauchen verlässliche Energie, um den industriellen Aufschwung nicht abzuwürgen, den wir in Ostdeutschland gerade jetzt erleben.

Gleichzeitig sorgen wir dafür, dass unsere neuen Terminals auch langfristig nutzbar sind, dass sie wasserstoff- und ammoniakready sind. Denn die Zukunft gehört den erneuerbaren Energien. Sie sind schon heute die preiswerteste Art, Energie zu produzieren. Über zwei bis sechs Cent Gestehungskosten pro Kilowattstunde reden wir bei der Solarenergie, über vier bis acht Cent bei Windkraft. Das ist günstiger als alle anderen Energieformen. Wenn wir also über bezahlbaren Strom sprechen - und die Stromkosten müssen runter -, dann kann es nur um den noch schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien und der Netze gehen. Hierfür hat die Bundesregierung in den vergangenen anderthalb Jahren die Voraussetzungen geschaffen: mehr Flächen, mehr Flexibilität für Länder und Kommunen, weniger Gutachten, weniger Bürokratie.

Auch das will ich hier sagen: Nicht Ostdeutschland hat hier Nachholbedarf, auch nicht Norddeutschland. Wenn man sich die Windkraftanlagen in Mecklenburg-Vorpommern an der Ostsee und in den verschiedenen Ländern hier im Osten anschaut, dann weiß man, wie die Gestehungskosten im Norden und Osten Deutschlands sind. Bei der Windenergie liegen der Osten und der Norden weit vor den großen Industrieregionen im Westen und Süden. Wenn es allein um die Produktionskosten des Stroms ginge, dann würde der Strompreis hier deutlich unter dem Preisniveau im Westen und Süden liegen. Deshalb sorgen wir dafür, dass nun endlich auch im Süden und Südwesten mehr Wind- und Solaranlagen entstehen, zum Beispiel mit einem verbindlichen Flächenziel bei der Windkraft. Wir wollen Strom aus erneuerbaren Energien noch einfacher und günstiger vor Ort nutzbar machen, damit diejenigen, die so stark sind wie der Osten, auch von niedrigeren Kosten profitieren.

Noch eine Herausforderung packen wir an, meine Damen und Herren. Auch was die Infrastruktur unseres Landes angeht, haben wir in den vergangenen Jahren zum Teil von der Substanz gelebt. Damit Ostdeutschland seine zentrale Lage in Mitteleuropa voll ausspielen kann, braucht es auch künftig eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur. Deshalb treiben wir in den kommenden Jahren wichtige Verkehrskorridore voran wie die Schienenverbindung Berlin-Cottbus-Görlitz, die A 14 zwischen Mitteldeutschland und dem Norden und Wasserstraßen wie die zwischen Berlin und Magdeburg.

Hinzu kommen Investitionen in zwei Forschungseinrichtungen von Weltrang. Das Chemresilienz wird im mitteldeutschen Revier angesiedelt. Es soll eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft in der Chemieindustrie unterstützen. In der Lausitz wird das Deutsche Zentrum für Astrophysik entstehen.

Die geopolitischen Verwerfungen, Fragen rund um Energie, Infrastruktur und Investitionen, all das hat eine große Bedeutung für Deutschland und den Standort hier im Osten. Wenn man aber Sie fragt, die ostdeutschen Unternehmen, dann hört man, dass noch ein ganz anderes Thema weit oben auf der Liste der größten Herausforderungen steht. Sie wissen natürlich, wovon ich spreche. Ein Meinungsforschungsinstitut hat 1500 ostdeutsche Unternehmerinnen und Unternehmer befragt, und die Sorge Nummer eins noch vor der Digitalisierung, vor der Energiesicherheit und vor den Energiepreisen ist der Mangel an Arbeitskräften. Das sagen volle zwei Drittel aller Befragten. Natürlich liegt auch diesem Problem erst einmal eine fast unglaubliche Erfolgsgeschichte zugrunde, wenn man bedenkt, wie lange Ostdeutschland mit Massenarbeitslosigkeit zu kämpfen hatte und wie viele Jüngere deshalb in den Westen abgewandert sind. Genau das aber verschärft nun das Fachkräfteproblem.

Nehmen wir zum Beispiel Sachsen. Jeder und jede Dritte der 1,6 Millionen Beschäftigten dort geht in den nächsten sieben Jahren in Ruhestand. Das sind über 500 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmer, so viele, wie ganz Dresden Einwohner hat.

Ich hoffe - das muss ich bei einem Unternehmerforum im Übrigen sagen -, Sie tragen das Folgende mit Fassung. Ein ganz entscheidender Standortfaktor im Werben um Fachkräfte sind natürlich gute Löhne. Noch immer bekommen Ostdeutsche im Durchschnitt rund 620 Euro weniger Lohn im Monat als Westdeutsche, in manchen Branchen sogar bis zu 1000 Euro. Mit dem Wirtschaftsboom Ost, den ich beschrieben habe, muss sich das irgendwie ändern. Viele von Ihnen wissen das. In der zitierten Studie nennen 72 Prozent der ostdeutschen Unternehmen höhere Löhne als das Mittel gegen den Fachkräftemangel. 

Noch etwas gehört hierher: mehr Tarifbindung, starke Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Denn auch damit steigt die Attraktivität eines Standorts. 

Die Bundesregierung unterstützt Unternehmen bei der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften. Doch zur Wahrheit gehört: Allein mit einheimischen Arbeitskräften werden wir die Lücke nicht ausgleichen, die sich ganz besonders im Osten auftut.  Deshalb schaffen wir das wohl modernste Einwanderungsrecht der Welt. Der Bundestag berät in diesen Tagen abschließend über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz der Bundesregierung. Für Anfang Juli ist die finale Abstimmung im Bundesrat geplant. Danach kann das Gesetz in Kraft treten. Dann können Arbeits- und Fachkräfte deutlich leichter als bisher nach Deutschland kommen, übrigens auch zur Jobsuche. Parallel dazu vereinfachen und beschleunigen wir die Verfahren von der Visaerteilung bis zur Anerkennung von Abschlüssen, damit Sie zügig die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bekommen, die Sie brauchen.

Doch Gesetze und Verordnungen sind nur eine Seite der Medaille. Arbeitnehmer und Fachkräfte gerade in Zukunftsbranchen können sich heute aussuchen, wohin sie gehen. Dann geben oft auch die vermeintlich weichen Faktoren den Ausschlag. An der schönen Landschaft, an bezahlbaren Wohnungen, an bezahlbaren oder kostenlosen Schulen und Kitaplätzen wird es hier im Osten nicht scheitern. Doch zu alledem braucht es auch einen Bewusstseinswandel, übrigens im ganzen Land, nämlich die Einsicht, dass ausländische Fachkräfte nicht nur gebraucht werden, sondern wirklich willkommen sind. Als Arbeitgeber können Sie vor Ort zu diesem weltoffenen Deutschland beitragen. Darum bitte ich Sie heute.

Wenn wir über Offenheit reden, dann möchte ich zum Schluss ein Thema nicht unerwähnt lassen. Gerade einmal vier von 184 Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern in der Bundesregierung stammen aus dem Osten. Das sind 2,1 Prozent. Nach wie vor sind nur zwei von 247 DAX-Vorständen Ostdeutsche. Da sind wir dann schon im Promillebereich. Das ist nicht gut für unser Land. Deshalb haben wir die Repräsentation von Ostdeutschen in Führungspositionen der Bundesverwaltung Anfang des Jahres erstmals überhaupt zum Thema gemacht. Ich bin froh, dass unser Ostbeauftragter, Staatsminister Carsten Schneider, die von uns beschlossenen Maßnahmen mit Nachdruck und aus dem Kanzleramt heraus vorantreibt. Wir wollen als Bundesregierung hierbei vorangehen und hoffen, dass Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, Justiz und Medien mitgehen. Ich weiß, dass ich Sie dabei auf meiner Seite habe. Das Ostdeutsche Wirtschaftsforum zeichnet sich dadurch aus, Impulse zu geben, die auch weit über Bad Saarow und weit über Ostdeutschland hinaus aufgegriffen werden. Das wünsche ich mir an dieser Stelle und in diesem Sinne Ihnen eine erfolgreiche Konferenz.

Schönen Dank für die erneute Einladung!