Meine sehr geehrten Damen und Herren,
vergangene Woche war ich vier Tage lang in Südostasien unterwegs in Vietnam, in Singapur und beim G20-Gipfel in Indonesien , und bevor wir gleich miteinander diskutieren, möchte ich gern einige Erkenntnisse dieser Reise mit Ihnen teilen. Denn nicht nur die deutsche Wirtschaft ist dabei, sich „zwischen Krieg und Frieden“ neu zu verorten. Eine zunehmend multipolare Welt sortiert sich gerade fundamental neu, und wohl nirgendwo sonst wird diese Entwicklung deutlicher als in Südostasien.
Die erste Erkenntnis meiner Reise lautet: Wir befinden uns heute mitten in einer neuen Phase der Globalisierung. In den vergangenen 30 Jahren haben wir hier in Europa und in Nordamerika zugleich stabiles Wachstum, niedrige Inflation und hohe Beschäftigungsraten erlebt. Das war eine ökonomische Ausnahmelage. Russlands Krieg und die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie mögen ihr Ende beschleunigt haben - die Auslöser aber waren sie nicht.
Wer sich Vietnam, Indonesien oder vergleichbare Schwellenländer anschaut, der versteht, warum. Jahrzehntelang haben diese Länder relativ günstig Güter und Dienstleistungen vor allem für den europäischen, nordamerikanischen und zunehmend auch für den chinesischen Markt produziert. Inzwischen aber und das ist ein großes Verdienst der Globalisierung sind dort über eine Milliarde Bürgerinnen und Bürger zu einer neuen Mittelklasse in der Welt aufgestiegen.
Die großen Volkswirtschaften Asiens, Afrikas und im Süden Amerikas konkurrieren mit uns längst um Rohstoffe, Energie und Technologien. Viele dieser Länder haben in der Pandemie ihre eigenen Konjunkturprogramme aufgelegt. Das erhöht weltweit die Nachfrage, das sorgt für steigende Preise. Die Folgen dieser Entwicklung müssen wir, müssen unsere Unternehmen einpreisen im wahrsten Sinne dieses Wortes. Das Versprechen der Globalisierung war stets, dass sie Wohlstand schafft. Und tatsächlich hat sie Milliarden weltweit aus bitterer Armut geführt, allen voran Millionen Chinesen das dürfen wir angesichts mancher berechtigter Globalisierungskritik nie vergessen.
Der frühere singapurische Premier Lee Kuan Yew hat das in einem Gespräch mit Helmut Schmidt einmal auf den Punkt gebracht, indem er über die Globalisierung sagte: „Die Welt wurde (dadurch) unser Hinterland.“ mit großem Erfolg, wenn man sich die Entwicklung Singapurs von einer kleinen Fischer- und Hafenstadt zu einer großen globalen Wirtschafts- und Finanzmetropole anschaut.
Daran haben deutsche Unternehmen großen Anteil: 2100 sind es allein in Singapur, die von dort aus die Wachstumsmärkte der Indo-Pazifik-Region erschließen und Wohlstand auch hier bei uns schaffen.
Die zweite Erkenntnis lautet daher: Die Deglobalisierung ist ein gefährlicher Holzweg nicht nur, weil weite Teile der Welt diesen Weg nicht mitgehen würden. Gerade Deutschland und Europa mit ihrer hochtechnologischen und exportorientierten Wirtschaft sind auf internationale Arbeitsteilung angewiesen.
Deshalb tun wir gut daran und das ist Erkenntnis Nummer drei für mehr Handel mit den aufstrebenden Regionen dieser Welt zu sorgen, natürlich zu fairen Regeln. Von Asien ausgehend sind in den vergangenen Jahren mit dem „Regional Comprehensive Economic Partnership” und dem “Trans-Pacific Partnership” die größten Freihandelszonen der Welt entstanden. Europa ist bislang nicht dabei. Nun können wir dieser Entwicklung natürlich weiter von der Seitenlinie zusehen. Dann setzen auf Dauer andere Standards, nach denen unsere Firmen produzieren.
Oder aber wir nutzen Europas große Marktrelevanz und verhandeln über Abkommen mit hohen Sozial-, Umwelt- und Menschenrechtsstandards, auch wenn sich vielleicht nicht jeder unserer Vorschläge eins zu eins durchsetzen lässt. Ich halte das für den deutlich vielversprechenderen Weg. Deshalb bin ich froh, dass wir bei den Handelsabkommen mit Neuseeland, Australien, Indien, Mexiko, Chile, und nach der Wahl in Brasilien hoffentlich auch mit dem Mercosur, vorankommen.
Auch die Idee eines Industriezollabkommens mit den USA sollten wir uns noch einmal sehr genau anschauen. Schließlich ist solch ein Abkommen allemal besser als ein Überbietungswettbewerb bei Subventionen und Schutzzöllen, wie ihn manche infolge des amerikanischen „Inflation Reduction Act“ auf uns zukommen sehen.
Die vierte Erkenntnis meiner Reise: Diversifizierung ist in diesen geopolitisch bewegten Zeiten ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft. Diese Erkenntnis war zum Glück auch überall auf der Asia-Pacific Conference der deutschen Wirtschaft zu hören, die ich in Singapur besucht habe.
Schließlich haben wir mit Russland erlebt, was es heißt, sich bei einer strategisch entscheidenden Ressource wie Gas zu sehr in Abhängigkeiten zu begeben. Meine Wahrnehmung aus vielen Gesprächen mit deutschen Wirtschaftsvertretern ist: Dieser Fehler passiert uns kein zweites Mal. Wirtschaftliche Diversifizierung findet längst statt, und als Bundesregierung werden wir sie weiter politisch flankieren.
Stefan Kornelius schrieb vor ein paar Jahren in Ihrer Zeitung: „Globalisierung ist eine politische Urgewalt. Wer sie zähmen will, müsste internationale Politik auf Augenhöhe zwischen allen Staaten betreiben.“ Genau darum geht es.
Es ist kein Zufall, dass wir uns Indo-Pazifik-Leitlinien gegeben haben und diese umsetzen. Meine erste Reise Richtung Asien führte Anfang des Jahres ganz bewusst nach Japan. Im Mai hatten wir Regierungskonsultationen mit Indien, wo wir intensiv über Technologie-, Energie- und Klimafragen gesprochen haben. Anfang November habe ich mich mit Staatspräsident Xi in Peking offen über Herausforderungen und Perspektiven im deutsch-chinesischen Verhältnis ausgetauscht. Ich habe unsere G7-Präsidentschaft genutzt, um die Partnerschaften mit führenden Ländern Asiens, Afrikas und Südamerikas wie Indien, Südafrika, Senegal, Argentinien und Indonesien bei Zukunftsthemen neu auszurichten. Natürlich war auch mein Besuch letzte Woche in Südostasien in Begleitung einer großen Wirtschaftsdelegation ein Signal, dass wir uns in Zukunft noch breiter aufstellen wollen.
Die deutsche Wirtschaft muss die mit einer multipolaren Welt einhergehenden Veränderungen nicht fürchten im Gegenteil. Das ist die fünfte Erkenntnis. Deutsche Unternehmen werden als Partner gesucht, weil unsere Industrie und unsere Forschungseinrichtungen genau die Technologien entwickeln, die weltweit für die Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft gebraucht werden. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Ägypten baut Siemens gerade ein vollelektrifiziertes Eisenbahn-Netz. Alle großen Zentren des Landes werden dadurch verbunden und klimafreundliche Mobilität ermöglicht.
Wir haben uns vorgenommen, bis 2045 eines der ersten klimaneutralen Industrieländer weltweit zu werden. Das ist nicht nur klimapolitisch von großer Bedeutung. Darin liegt auch ein wirtschaftspolitisches Ziel, denn schon auf dem Weg dorthin eröffnet das enorme Marktchancen. Auch deshalb machen wir derzeit so großes Tempo beim Ausbau der Erneuerbaren Energien, haben die bisherigen Bremsklötze aus dem Weg geräumt und schreiben einen klaren Ausbaupfad auch gesetzlich fest.
Ich mache mir keine Illusionen über die Größe dieser Aufgabe: Wir reden über eine zweite industrielle Revolution. Doch dabei kommt uns eine besondere Stärke der deutschen Wirtschaft zugute: Wir haben einen Mittelstand, der nicht nur Weltmarktführer und „hidden champions“ hervorbringt. Unsere Unternehmen sind aufgrund ihrer Größe, ihrer Struktur und ihrer Innovationskraft oft schneller darin, auf Umbrüche in der Weltwirtschaft zu reagieren und die Chancen der Diversifizierung und der Transformation zu nutzen. Diesen Vorteil sollten wir insgesamt nutzen.
Damit bin ich bei meiner sechsten und letzten Botschaft, die in diesen Tagen vielleicht die wichtigste ist: Wir werden dafür sorgen, dass Deutschlands Wirtschaft, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland die schwierige Zeit übersteht. Wir sorgen für Energiesicherheit, indem wir neue Lieferbeziehungen aufbauen und immer mehr Flüssiggasterminals ans Netz holen, indem wir die Gasspeicher gefüllt haben, Kohlekraftwerke reaktiviert haben und indem wir die verbliebenen Atomkraftwerke länger laufen lassen. Und wir sorgen dafür, dass die hohen Preise Energieunternahmen und private Haushalte nicht überfordern. Sie alle haben das in den vergangenen Monaten mitverfolgt.
Dafür nehmen wir bis 2024 sehr viel Geld in die Hand bis zu 300 Milliarden Euro in diesem Jahr. Das bedeutet Entlastungen für Arbeitnehmer, für Unternehmen, soziale und kulturelle Einrichtungen, für Rentner und Studierende, Entlastungen für diejenigen, die sie am meisten brauchen. Mit der Gas-, Fernwärme- und Strompreisbremse, die wir in Kürze auf den Weg bringen werden, schaffen wir verlässliche Preise für Energie bis weit ins Jahr 2024 damit kann dann jeder rechnen.
Schließlich packen wir parallel auch die strukturellen Probleme an, mit denen unsere Wirtschaft ganz unabhängig von Inflation und Energiekosten zu kämpfen hat. Eine der größten Bremsen derzeit ist der Mangel an Fachkräften. Fast zwei Millionen Stellen sind derzeit unbesetzt. Deshalb schaffen wir bessere Möglichkeiten für die Fort- und Weiterbildung von Beschäftigten. Und wir arbeiten an einem Einwanderungsrecht, das mit den modernsten der Welt mithalten kann.
Meine Damen und Herren, nun habe ich viel über die veränderte Welt geredet und über die Chancen, die wir als Land und als starke Volkswirtschaft darin trotz aller Herausforderungen haben. Das setzt Veränderungsbereitschaft auch hier bei uns voraus. Aufbrüche, Zeitenwenden, ein Umstoßen alter Denkmuster: All das haben wir in den letzten Monaten immer wieder erlebt in unserer Gesellschaft, in der Wirtschaft und auch bei fast allen politisch Handelnden. Mir macht das Hoffnung Hoffnung, dass wir so zwischen Krieg und Frieden Vertrauen erhalten und neues Vertrauen schaffen.
Damit bin ich zurück beim Titel dieser Veranstaltung - und freue mich auf die Diskussion.