Sehr geehrter Herr Hakverdi,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
Wer immer über die große Sturmflut von 1962 spricht: Er tut es in großer Trauer und tiefer Demut. Diese Katastrophe hat sich eingebrannt in die Seelen der Hamburgerinnen und Hamburger, der Wilhelmsburger, der Harburger, in die Seele der ganzen Stadt.
Den Älteren stehen die Ereignisse noch vor Augen, die Jüngeren wissen von ihnen durch die Erzählungen der Eltern und Großeltern. Und jede und jeder hat ein eigenes Erlebnis beizusteuern, das uns die ganze Schrecklichkeit verdeutlicht.
Da waren die Leute im Seewetteramt, die feststellten, wie der Sturm anschwoll und immer mächtiger wurde. Der Wind drehte von Südwest auf West. Kurz nach Mitternacht erreichte er hier seinen Höhepunkt, Windstärke 10 bis 12.
Da war die Deichwacht, die sehen musste, wie das Wasser unaufhörlich stieg. Die höchste Flutwelle aller Zeiten, 5,71 Meter über Normalnull. Land unter an vielen Stellen, 61 Deiche hielten dem Wasser nicht stand. Und wenn irgendwo im Norden der Pegelstand sank, dann oft nur deshalb, weil sich anderswo das Wasser gerade einen neuen Weg gesucht hatte - dorthin, wo auch Menschen lebten.
Hunderttausend waren vom Wasser eingeschlossen. 315 starben, darunter mehr als zweihundert Wilhelmsburger. 20.000 Männer, Frauen und Kinder wurden obdachlos.
Da waren die Feuerwehrleute und Katastrophenhelfer, die das Wasser gurgeln hörten, die ihm ihre Sandsäcke entgegen warfen und doch nur sahen, dass sie wie Wattebäusche im Modder versanken. Da waren die Krisenstäbe, die ohne Strom und Telefon auskommen mussten. Da waren die, die ihr Hab und Gut veroren, die um ihr Leben rannten, nach ihren Kindern griffen, oben auf dem Dach in dunkler Nacht mit weißen Stoff-Fetzen auf sich aufmerksam machten. Da waren die Retter in ihren Booten oder im Hubschrauber, die die Verzweifelten von diesen Dächern und aus ihren Häusern holten.
Da waren die Krankenhäuser und Rettungsdienste, die die Verletzten versorgten. Da waren die Helfer, die Polizisten und Feuerwehrleute, die ihr Leben lang nicht vergessen werden, wie sie am Morgen die Leichen fanden. Tage wie ein Albtraum, schrieb das Abendblatt.
Auch fünfzig Jahre danach verneigen wir uns vor den Toten und danken allen, die geholfen haben, Leben zu retten.
Das Jubiläum dieser grausamen Katastrophe erinnert uns auch daran, dass eine große Stadt an einem großen Fluss angreifbar und verletzlich ist durch die Macht der Natur. Die Elbe hat Hamburg zu dem gemacht, was sie ist: eine Freie und stolze Hansestadt, mit viel Arbeit und Wohlstand, mit Bürgerinnen und Bürgern, deren Ideen, Kraft und Gemeinsinn eine Heimat möglich gemacht haben für heute 1,8 Millionen. Aber es war eben auch das Wasser in der Elbe, das Leben nahm und Zerstörung verursachte.
Diese Stadt wurde schwer getroffen, aber sie gab sich nicht auf. Die Elbanlieger, sie kennen die Gefahren. Die große Sturmflut war auch der Augenblick, in dem sich der Katastrophenschutz zu bewähren hatte. Mut zum Handeln unter schwierigen Bedingungen, das war es, was Schlimmeres verhindert hat. Und es war kein Einzelner, der diese Taten vollbrachte, es waren Viele.
Helmut Schmidt war es, der damals einen klaren Kopf behielt und das tat, was getan werden musste. Helmut Schmidt agierte als Polizeisenator umsichtig und holte dabei klug auch alle Hilfe von außen her, die zu bekommen war, auch die der Bundeswehr und der Verbündeten.
Ja, wir wurden angegriffen damals und schwer getroffen, gerade die Ärmsten, hier in diesem Viertel, vor allen in den Kleingärten, wo sie wohnten, bekamen das bitter zu spüren. Aber alle spürten: Wir sind nicht allein in der Stunde der Not.
Da waren die Nachbarn, die Familie, die Hamburgerinnen und Hamburger, darunter übrigens auch viele Frauen, die anpackten und aufräumten. Aber da war auch das Umland, heute würde man sagen: die Metropolregion. Auch von dort kamen Katastrophenschützer und freiwillige Helfer, die uns beistanden. Sogar aus dem Ausland machten sie sich auf die Reise. 1962 war eben auch ein Beweis, dass Nachbarschaft, Solidarität und Gemeinsinn viel stärker sind als Egoismus und Ellenbogen.
1962 war auch das Jahr, in dem Wilhelmsburg einen ganz besonderen Platz bekam auf dem Stadtplan der Hamburger Politik. Weil dieser Stadtteil so große Opfer bringen musste.
Klimaschutz und Küstenschutz haben seitdem einen viel höheren Stellenwert im Regierungshandeln erhalten. In mehr als hundert Jahren ohne größere Flutschäden war die Stadt sorglos geworden. Erst nach dem großen Unglück wurden Deich- und Katastrophenschutz groß geschrieben.
In den vergangenen fünfzig Jahren hat Hamburg deshalb seine Hochwasserschutzanlagen deutlich verstärkt. Die Deiche sind rund zweieinhalb Meter höher geworden, es gibt Katastrophenpläne und viel mehr Informationen. Seit 1962 haben wir weitere acht Sturmfluten überstanden mit Scheitelwasserständen, die höher lagen als die der Flut vor fünfzig Jahren.
Sorglos wird hier trotzdem niemand mehr sein. Das derzeitige, aktuelle Bauprogramm Hochwasserschutz geht jetzt in seine vorerst letzte Phase. Die Arbeiten an 78 Kilometern Erddeich sind seit 2006 fertig. Bei den Hochwasser-Schutzwänden, insgesamt 25 Kilometer, fehlen noch einige Abschnitte im Bereich der Innenstadt. Bis 2015 sollen auch diese Arbeiten abgeschlossen sein.
1962 macht uns auch empfindsam für das, was anderen in der Welt widerfährt. Als 2004 der Tsunami auf die Küsten Asiens prallte, war die Erschütterung auch hier riesengroß. Und es wurde sofort Hilfe organisiert. Das Gleiche wiederholte sich, als vor einem Jahr Japan von Erdbeben und Flutwellen schwer getroffen wurden. Das eigene Erleben hat unsere Sinne noch mehr geschärft für das menschliche Leid. Wir alle sind Bewohner dieser einen Erde mit ihren vielen Meeren, und wir stehen einander bei, wann und wo immer jemand in Not ist. Gerade ein wohlhabendes Land wie Deutschland ist dazu in besonderer Weise verpflichtet.
Meine Damen und Herren,
seit 1962 versammeln sich hier am Flutmahnmal in Wilhelmsburg die Bürgerinnen und Bürger, die Hilfsorganisationen und Retter, die Kirchen, Vereine und Institutionen, um der Opfer zu gedenken. Es sind schon viele Reden gehalten worden zu diesem schrecklichen Ereignis, auch von Bürgermeistern dieser Stadt. Aber mehr als all die heutigen Worte zählen doch die Taten von damals.
Das waren Zeugnisse der Nächstenliebe, es war spontane und mutige Hilfe, von Menschen für Menschen erbracht. Sie haben in einer dunklen Stunde dieser Stadt gezeigt, dass wir uns aufeinander verlassen können.
Und so ist unsere Zusammenkunft heute hier zwar ein Augenblick der Trauer, des Innehaltens und Erinnerns. Aber so wie wir alle hier stehen und so, wie heute die ganze Stadt der schrecklichen Ereignisse vor 50 Jahren gedenkt, so setzen wir damit auch ein leuchtendes Zeichen dafür, dass Hamburg eine Stadt voller Solidarität ist und bleibt - mit Herz, Verstand und Händen, die zupacken und helfen, wo Hilfe gebraucht wird.
Es gilt das gesprochene Wort.