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Symbolfoto: Olaf Scholz
Photothek
19.03.2024 | Berlin

Rede bei der Konferenz „Europe 2024“

Im August 2022, ein halbes Jahr nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die ganze Ukraine, habe ich an der Karlsuniversität in Prag über die historische Herausforderung gesprochen, der wir in Europa ins Gesicht sehen. Die Frage lautet damals wie heute: Wie bewahren wir die europäische Friedensordnung vor einem neoimperialen Russland, das Grenzen mit Gewalt verschieben will und in der Demokratie nur noch auf dem Papier existiert, wo Oppositionelle getötet werden und Wahlen zu einem Schauspiel mit vorbestimmten Drehbuch verkommen sind? Was also muss das freie, demokratische Europa an dieser Wegmarke seiner Geschichte tun?

Zu allererst haben wir die historische Aufgabe, das nach innen gerichtete Friedensprojekt Europa weiterzuentwickeln, und zwar indem wir die Europäische Union in die Lage versetzen, ihre Sicherheit, ihre Unabhängigkeit und ihre Stabilität auch gegenüber Herausforderungen von außen zu sichern. Die vergangenen beiden Jahre haben gezeigt, dass Europa an dieser Prüfung wieder einmal gewachsen ist. Noch vor wenigen Jahren, nach dem Brexit und während der Coronapandemie, war überall vom Zerfall der Europäischen Union die Rede, vom Ende des europäischen Projekts. Heute, wenige Jahre später, wächst unsere Union. Wir haben neuen Schwung in den Beitrittsprozess mit Ländern des westlichen Balkans gebracht. Die Ukraine, Moldau und Georgien wollen der EU beitreten. Auch die EU selbst hat erkannt, welche geopolitische Bedeutung diese Erweiterung hat.

Europa 2024 heißt auch: Wir verteidigen unsere europäische Souveränität. Wir arbeiten bei unserer Verteidigung enger denn je zusammen. Wir schaffen die Grundlage für eine gemeinsame europäische Luftverteidigung im Rahmen der Nato. Wir stimmen uns bei Rüstungsprojekten eng ab. Wir schützen wichtige Handelswege, etwa mit der neuen EU-Operation im Roten Meer.

Von zentraler Bedeutung für den Frieden in Europa bleibt die verlässliche dauerhafte Unterstützung der Ukraine. Erst Anfang Februar haben wir als Europäische Union den Weg für ein weiteres Unterstützungspaket im Umfang von 50 Milliarden Euro frei gemacht. Auch im Weimarer Dreieck haben wir unsere gemeinsamen Anstrengungen zur Unterstützung der Ukraine gerade noch einmal intensiviert. Hinzu kommen unsere nationalen Anstrengungen, die viele Länder in den vergangenen Wochen noch einmal gesteigert haben. Allein Deutschland hat für die militärische Unterstützung der Ukraine mittlerweile rund 28 Milliarden Euro bereitgestellt oder fest eingeplant. Wir beschaffen Munition für die Ukraine auf dem Weltmarkt. Gleichzeitig fahren wir die Produktion innerhalb Europas hoch. Das alles tun wir mit einem klaren Ziel vor Augen. Wir wollen einen gerechten und dauerhaften Frieden in der Ukraine, kein russisches Diktat. Dafür muss der russische Präsident verstehen: Wir, unsere Partner und Verbündeten, unterstützen die Ukraine so lange wie nötig.

Europa 2024 heißt auch, die Gräben zu schließen, die uns über Jahre gespalten und geschwächt haben. Das gilt beispielsweise für die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Jahrelang wurde darum gerungen. Jetzt liegt endlich eine europäische Lösung auf dem Tisch, die Humanität und Ordnung sichert, mit einem wirksamen Grenzschutz und einem verpflichtenden Solidaritätsmechanismus zwischen den Mitgliedsstaaten.

Auch im Bereich der Wirtschaft sind uns echte Durchbrüche in Richtung auf mehr Wettbewerbsfähigkeit, mehr Innovation und weniger Abhängigkeit gelungen. Wir alle haben noch die Engpässe bei den Halbleitern vor Augen, die infolge der Coronapandemie viele Bänder zum Stillstand gebracht haben. Mit dem Chips Act und der Förderung europäischer Gemeinschaftsprojekte haben wir darauf reagiert. In Europa und – das kann ich sagen – besonders in Deutschland entsteht gerade eines der weltweiten Zentren der Halbleitertechnik. Microchips made in Europe helfen der Wirtschaft. Sie sichern unseren technologischen Vorsprung und gute Arbeitsplätze in Europa für die nächsten Jahrzehnte.

Ein Meilenstein ist auch die europäische Regulierung zu künstlicher Intelligenz, die erste umfassende weltweit. Sie bietet Schutz, ohne Innovationen abzuschneiden. Microsoft hat sich nicht trotz, sondern gerade wegen dieses klaren Rahmens dafür entschieden, in den nächsten beiden Jahren drei Milliarden Euro in Deutschland zu investieren. Das zeigt doch, dass die fairen Wettbewerbsbedingungen des „level playing field“, das unser gemeinsamer Markt bietet, ein riesiger Wettbewerbsvorteil bleiben. Diesen Vorteil müssen wir uns erhalten. Dazu zählt es, unnötige Bürokratie abzubauen, nicht nur national, sondern eben auch in Europa. Die Kommission hat angekündigt, 25 Prozent der Berichtspflichten für Unternehmen abzuschaffen. Das ist ein Anfang, aber nach den Europawahlen geht sicherlich noch mehr.

Entscheidend voranbringen wollen wir auch die Banken- und Kapitalmarktunion. Das klingt technisch. Aber am Ende geht es darum, ob wir genug privates Kapital mobilisieren, um die Transformation unserer Wirtschaft und unsere Gesellschaften zum Beispiel hin zur Klimaneutralität finanzieren zu können. In den USA, wo es einen riesigen Kapitalmarkt gibt, gelingt das. Die EU muss hierbei dringend aufholen. Europa bleibt auch 2024 „work in progress“. Im Sommer 2022 habe ich in Prag betont, dass gerade in einer wachsenden Europäischen Union Reformen notwendig sind, zum Beispiel was die internen Abstimmungsprozesse angeht. Viele haben sich dieser Forderung mittlerweile angeschlossen. Noch im Juni soll ein Reformfahrplan stehen.

Ein handlungsfähiges Europa, wie wir es in den vergangenen zwei Jahren erlebt haben, ist übrigens auch die beste Antwort auf die Extremisten und Populisten, die es in fast allen europäischen Ländern gibt. Wir werden Europa nicht jenen überlassen, die von Dexit, D-Mark und Deportationen schwadronieren und damit unsere Einheit und unseren Wohlstand gefährden, die Autokraten wie Putin nacheifern und Freiheit, unsere Rechtsstaatlichkeit und unsere Demokratie verachten. Ein geeintes Europa und nur ein geeintes Europa hat die allerbesten Chancen, das 21. Jahrhundert in unserem, im europäischen Sinn mitzuprägen und mitzugestalten, mit dem größten Binnenmarkt der Welt, mit führenden Forschungseinrichtungen, innovativen Unternehmen, mit stabilen und wehrhaften Demokratien, mit einer sozialen Versorgung und einer öffentlichen Infrastruktur, die auf der Welt ihresgleichen suchen. Darum geht es in Europa 2024. Ich freue mich auf die Diskussion und warte auf die Fragen.