Die SPD befindet sich in einer sehr schwierigen Phase, das spürt jeder von uns. Kaum einer von uns ist Sozialdemokrat geworden, um Entscheidungen von der Art zu treffen, wie wir sie jetzt treffen und treffen müssen. Ich jedenfalls bin nicht mit 17 in die SPD eingetreten, weil ich fand, dass wir etwa Bestandteile der Kranken-versicherung anders finanzieren oder Leistungen streichen sollten. Diese Schritte, die wir jetzt tun, sind notwendig und richtig. Aber es sind gewiss nicht die Dinge, die uns einmal zusammengebracht haben. Das zeigt sich an Austritten, das zeigt sich an Unruhe und das zeigt sich an Verärgerung.
Niemand sollte sich falsche Vorstellungen machen: Wir erleben eine schwierige Zeit der wirtschaftlichen Probleme wegen und der Anforderungen, die sich daraus für uns und unsere Reformpolitik ergeben. Wir müssen versuchen, das vernünftig zu lösen. Aus meiner Sicht gehört dazu, dass wir intensiv diskutieren, worin eigentlich die zentralen Ziele der SPD bestehen. Schlecht wäre es, wenn unsere Partei Ziele entwickelte, die sie dann überhaupt nicht realisiert. Irgendwann wird man dann nicht mehr ernst genommen. Man muss sich schon mit den tatsächlichen Verhältnissen auseinandersetzen und versuchen, darauf Antworten zu geben, die eine sozial-demokratische Vision enthalten.
Gerade deshalb ist es notwendig, dass wir über die Frage diskutieren, was heute un-ter veränderten Bedingungen Gerechtigkeit bedeutet. Diese Debatte müssen wir führen. Denn das Schlimmste für uns wäre, wenn wir uns versteckten, wenn wir diese Diskussion nicht führten und ständig mit schlechtem Gewissen umherliefen. Denn dann besäßen wir keine zeitgemäße Orientierung für unsere Politik.
Ich will sehr konkret darstellen, was aus meiner Sicht richtig ist und in welche Richtung wir diskutieren sollten. Weil aber Diskussionen nun einmal auch von Unterstellungen leben, möchte ich vorab ein paar Dinge klar stellen. Es ist ja eine etwas eigenartige Debatte entstanden nach dem Motto: Wenn wir über eine Erweiterung der Gerechtigkeitsdiskussion sprechen, dann geben wir auf, was sich für uns bisher mit sozialer Gerechtigkeit verbunden hat. Das hat aber niemand so formuliert. Wir haben in Deutschland einen Sozialstaat herausgebildet, der ein relativ hohes Transferniveau für viele Menschen bietet. Gerade in der vergangenen Legislaturperiode haben wir vieles von dem wieder in Ordnung gebracht, was in der Ära Kohl in Unordnung geraten war. Wir haben sozusagen die Uhr des Fortschritts, nachdem sie zuvor zurückgedreht worden war, wieder nach vorne gestellt.
Dafür lassen sich Beispiele benennen: Die Erhöhung des Kindergeldes; die Erhöhung der Ausbildungsförderung, die nicht nur eine Erhöhung der Zahlbeträge, sondern eine gewaltigen Vermehrung der Anspruchsberechtigten gebracht hat; die Erhöhung des Wohngeldes; die Schaffung einer Grundsicherung für ältere Menschen und für Menschen mit Behinderungen. Das alles sind richtige Entscheidungen gewesen.
I.
Trotzdem sollte klar sein: Es gibt Gerechtigkeitsfragen - nicht nur in Deutschland - die unzureichend beantwortet sind, oder die sich wieder neu stellen. Viele europäische Sozialstaaten sind immer mehr damit konfrontiert, dass die Gruppen von Menschen wachsen, die nicht an Bildung und Arbeit teilnehmen. Spätestens durch die PISA-Studie wissen wir: Nirgendwo sonst hängt es so sehr wie in Deutschland von der Herkunft ab, welche Bildungschancen Menschen haben. Wir sind schlechter als andere, da darf man sich nichts vormachen. Die Chancen, aus einem Elternhaus mit geringem Bildungshintergrund heraus trotzdem einen höheren (oder überhaupt einen guten) Bildungsabschluss zu erreichen, sind in anderen Ländern besser als bei uns. Wir müssen da etwas in Ordnung bringen.
Das scheint mir auch deshalb wichtig, weil wir dabei an die guten Erfolge der Bildungspolitik der sechziger und siebziger Jahre anknüpfen können, die dazu beigetragen haben, dass damals viel mehr Menschen als je zuvor bessere Bildungs-abschlüsse erreicht haben. Ganze SPD-Parteitage sind heute geprägt von Menschen die entweder den zweiten Bildungsweg beschritten haben oder als erste in ihrer Familie das Abitur machen und studieren konnten. Das ist etwas, worauf wir stolz sein können. Aber gerade dann müssen wir erschrecken, wenn wir feststellen, dass diese Ausdehnung von Bildungschancen, diese Vermehrung von Teilhabemöglichkeiten heute nicht mehr selbstverständlich ist.
Wir beobachten seit über zehn Jahren eine neue Segregation, den Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen, die an einer Aufwärtsdynamik im eigenen Leben und in der Gesellschaft nicht mehr teilnehmen. Das ist ein wichtiges Thema, dem wir uns zuwenden müssen; vor allem, weil sich die Arbeitsmärkte der Zukunft anders entwickeln werden als in der Vergangenheit. Zwar ist es richtig, darüber zu diskutieren, dass Menschen Arbeit annehmen sollten, die für sie machbar und erreichbar ist. Aber zugleich wissen wir , dass die Zahl der Arbeitsplätze für Menschen mit geringer Qualifikation in Deutschland in Zukunft nicht zunehmen, sondern abnehmen wird.
Wenn die Zahl der Menschen mit geringer Qualifikation wächst, zugleich aber das Angebot an Arbeitsplätzen mit geringen Anforderungen schrumpft, dann entsteht ein Problem, das man sich nicht dramatisch genug vorstellen kann. Heute wird für viele Tätigkeiten, selbst im Arbeiterbereich, ein völlig anderes Bildungs- und Qualifikationsniveau verlangt als noch vor zwanzig oder dreißig, ja selbst noch vor zehn Jahren. Viele von denen, die zum Beispiel heute in Hamburg bei Airbus anfangen, bekommen eine Arbeitsstelle dort nicht mehr mit einem Hauptschulabschluss. Oder nur, wenn sie einen sehr, sehr guten Hauptschulabschluss haben.
Das alles muss man zur Kenntnis nehmen, wenn man heute über die Frage von Gerechtigkeit spricht. Wir müssen dieses Thema daher neu entdecken und auf die neuen Probleme zuschneiden. Das bedeutet zum Beispiel, dass man sehr früh in Kinder investieren muss, in Bildung und damit in Teilhabechancen. Wenn wir wirklich gewährleisten wollen, dass für die Menschen ein Leben lang gute Chancen bestehen, dann müssen Bildungschancen heute schon vor der Schule beginnen.
Das gleiche gilt für die Frage der Teilhabe an Arbeit. Wir müssen Vollbeschäftigung als ein sozialdemokratisches Ziel definieren und darüber nachdenken, wie man dieses Ziel am besten erreichen kann. Es hat Diskussionen in diesem Land und auch in unserer Partei gegeben, die darauf hinausliefen, Vollbeschäftigung sei nicht mehr möglich. Aus solch einer fatalistischen Haltung sind dann politische Ziele und Perspektiven formuliert worden. Dieser Ansatz ist schon deshalb nicht richtig, weil es Staaten und Gesellschaften um uns herum gibt, die in einem Prozess von zehn oder zwölf Jahren erfolgreich die Wende geschafft und Vollbeschäftigung erreicht haben auf ganz unterschiedlichen Wegen, aber mit demselben guten Ergebnis. Deshalb dürfen wir vor dieser Aufgabe nicht kapitulieren. Wir müssen uns politisch unterscheiden von denjenigen, die das nicht für erreichbar halten und die deshalb Konzepte dafür entwickeln, wie die Menschen damit zurecht kommen sollen, dass hohe Arbeits-losigkeit auf Dauer existiert.
Der wissenschaftliche Bericht der Zukunftskommission der Länder Bayern und Sachsen, für den Edmund Stoiber und Kurt Biedenkopf schöne Vorworte geschrieben haben, ist von dem zentralen Gedanken geprägt, dass es Vollbeschäftigung nicht mehr geben kann und die Menschen sich damit abfinden sollen. Genau dies kann und darf niemals eine sozialdemokratische Debatte sein.
Wir sollten also nicht den Fehler begehen, die neuen Gerechtigkeitsfragen unserer Gesellschaft zu vernachlässigen. Und wir sollten auch nicht diese Fragen mit den Gerechtigkeitsfragen der Vergangenheit verwechseln und sagen: Das haben wir immer schon diskutiert. Dies wäre eine billige Ausflucht vor den neuen Segregations- und Aufteilungstendenzen in unserer Gesellschaft, vor dem Problem der Exklusion, das die eigentliche Bedrohung des Sozialstaates in Europa ist.
Die Tendenzen der Exklusion und der Desintegration in unserer Gesellschaft nehmen zu und nicht ab. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Wer dies bei Sozialstaats-diskussionen für die Zukunft nicht im Blick hat, der verfehlt ein ganz zentrales Kriterium für sozialdemokratische Reformpolitik.
II.
Mein zweites Thema ist die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme. Wir haben in Deutschland einen anderen Pfad eingeschlagen als andere Sozialstaaten in Europa. Es wäre ein großer politischer Fehler, wenn wir den Pfad verlassen würden, die großen Risiken über soziale Sicherungssysteme wie die Rentenversicherung, die Kranken-versicherung, die Pflegeversicherung oder die Arbeitslosenversicherung abzusichern. Natürlich sind andere Wege denkbar. Aber es ist nicht sinnvoll, den einmal eingeschlagenen Pfad zu verlassen, sofern die Möglichkeiten bestehen, ihn so auszugestalten, dass er auch in Zukunft seine Aufgaben erfüllen wird.
Die etwas vorschnellen Vorschläge, alles aus Steuern zu finanzieren, sind aus meiner Sicht schon deswegen problematisch, weil dieses Konzept ganz bestimmt in Armut und schlechter Absicherung enden würde. Man kann das anhand eines einfachen Zahlenspiels zeigen: Der Bundeshaushalt hat einen Umfang von 250 Milliarden Euro, davon ist ein erheblicher Teil nicht durch Steuern finanziert, sondern durch Kredite. Das Beitragsvolumen der sozialen Versicherungssysteme in Deutschland Renten-versicherung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung und Arbeitslosenversiche-rung hat einen Umfang von 350 Milliarden Euro. Niemand kann sich vorstellen, wie die Steuern für den Bund so angehoben werden könnten, dass ein Leistungsniveau in dieser Größenordnung steuerfinanziert zu Stande käme. Denkbar wäre dieser Weg nur, wenn man sich im Prinzip mit Minimalrenten und einer Minisicherung abfindet. Aber man würde dann auch Versorgungsprobleme erleben, wie sie in Großbritannien existieren.
Das muss uns nicht daran hindern, den Steueranteil an der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme zu erhöhen: Bei der Rente sind es heute schon 77 Milliarden Euro Steuergelder. Bei der Krankenversicherung wächst der Steueranteil durch die Reform, die wir jetzt machen, von null auf 4 Milliarden Euro und sicherlich muss man hier noch über Steigerungen nachdenken. Bei der Arbeitslosenversicherung wiederum ist alles steuerfinanziert, was nach dem einen Jahr Versicherungsleistungen an Arbeits-losenunterstützung bezahlt wird.
Für den Bereich der Steuerpolitik glaube ich, dass wir in Deutschland bei der Erbschaftssteuer zunächst einmal dafür sorgen müssen, dass sie überhaupt noch erhoben werden kann. Ihre Erhebung ist ja gefährdet, wenn wir keine neuen Gesetze zustande bringen. Dann aber gibt es durchaus Gestaltungswege, die sinnvoll beschritten werden können in dem Rahmen, wie er in anderen Ländern in Europa und der Welt existiert.
Bei richtiger Gelegenheit und geeigneter finanzieller Situation können wir darüber nachdenken, ob es in Versicherungssystemen außerhalb der Rentenversicherung noch Teile gibt, die als gesellschaftliche Aufgabe definierbar sind. Es wäre richtig, diese nicht über die Beiträge, sondern über Steuern zu finanzieren. Dabei wird es sich allerdings eher um kleinere Verschiebungen handeln, die jedenfalls an den 350 Milliarden Beitragsvolumen substanziell nur wenig verändern würden.
In der Diskussion über die Reform unserer Sozialen Sicherungssysteme sind nicht Schnellschüsse gefragt, sondern vorsichtige Verbesserungen. Und deshalb gilt beim Thema Bürgerversicherung: Es ist sinnvoller, sich auf den guten Gedanken und das Grundprinzip zu konzentrieren, als auf jede einzelne Detailfrage. Darunter gibt es Vorschläge, die schon deshalb nicht umsetzbar sind, weil man nicht einfach ganze Unternehmen und ganze Versicherungszweige abschaffen kann. Genau dies hieße ja, einen Pfad abzubrechen der nun einmal eingeschlagen worden ist.
Es gibt allerdings einen zentralen Gesichtspunkt der Bürgerversicherungsdiskussion, der auf keinen Fall verschüttet werden darf. Dieser Grundgedanke ist, dass sich niemand aus der Solidaritätsbeziehung entfernen darf. In der jetzigen Struktur unseres Gesundheitssystems gibt es Solidarität im Rahmen des Systems gesetzlicher Krankenversicherungen, auch zwischen Kassen mit hohen Einnahmen und anderen mit so genannten schlechten Risiken im Hinblick auf Einnahmen und Morbidität. Aber es sind eben bislang nicht alle Menschen in diesen Solidaritätszusammenhang eingebunden.
Daher ist es sinnvoll, darüber nachzudenken, wie wir eine Versicherung für alle Bürger schaffen aber eben nicht durch Schaffung einer Einheitskasse, oder indem die privaten Krankenversicherungen in Deutschland auf Zusatzgeschäfte reduziert werden sollen, auf die sie sich nicht zurückziehen wollen. Ich glaube, das wird weder politisch noch rechtlich gehen. Deshalb sollten wir in dieser wie auch in anderen Fragen etwas anstreben, was wir auch realisieren können: Solidaritätsbeziehungen zu schaffen, die in einem vielgliedrigen System gesetzliche und private Versicherungen umfassend einbeziehen. Dies lässt sich im Rahmen des bisherigen Pfades realisieren.
Ich glaube in diesem Zusammenhang, dass eine Anhebung der Beitragsbe-messungsgrenze nicht sinnvoll ist jedenfalls so weit sie über die regelmäßigen jährlichen Anpassungen hinausgehen würde. Noch weniger realistisch wäre, sie ganz abschaffen zu wollen, weil ein solcher Vorschlag wenig gesellschaftliche Akzeptanz finden würde.
Einen Vorgeschmack haben wir bei der Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung von 4.600 auf 5.100 bekommen. Als ich in Diskussionen dies zu begründen hatte, haben mich fast alle allein gelassen und böse angeschaut. Dabei handelt es sich hier noch um ein System, wo für höhere Beiträge auch höhere Leistungen bezahlt werden. Das ist im System der sozialen Krankenversicherungen absichtlich nicht so, da gibt es unabhängig von der Beitragshöhe dieselben Leistungen für alle.
III.
Es ist zu begrüßen, dass Teilhabe mittlerweile eine zentrale politische Kategorie der SPD ist, die von allen gerne akzeptiert wird. Dabei ist die Situation von Kindern ein besonders wichtiges Thema unserer Diskussion. Wir orientieren uns bislang in Deutschland in der öffentlichen Wahrnehmung zu oft an berufstätigen Singles. Eine Gesellschaft muss aber auch aus der Perspektive berufstätiger Eltern heraus gut organisiert sein. Das führt zu wesentlich anderen Ergebnissen als das, was quasi im Selbstlauf herauskommt, wenn wir nichts tun. Die Folgen können wir in Deutschland heute. Die skandinavischen Länder und andere sind deutlich weiter als wir. Auch die politische Diskussion ist dort weiter. Dem Wissenschaftler Gøsta Esping-Andersen ist zuzustimmen, wenn er sagt: Wir müssen früh investieren in die Kinder, wenn wir für Menschen wirkliche Chancen in ihrem ganzen Leben erreichen wollen.
Wenn man sich unser Schulsystem betrachtet, die Kinderbetreuung und vieles andere, dann sehen wir: In Deutschland haben wir einen größeren Stellenwert auf die Höhe von Transferzahlungen gelegt ich glaube, wir haben in Deutschland das höchste Kindergeld in Europa überhaupt. Dafür hatte die Frage, ob es eigentlich für Kinder und Eltern die Angebote gibt, die sie brauchen, einen deutlich zu geringen Stellenwert. Angebote, die notwendig sind für die Familien, für ihre Berufstätigkeit, aber auch für ordentliche und gleiche Chancen auf Qualifikation - unabhängig vom Elternhaus.
IV.
Zum Stichwort demokratischer Sozialismus will ich gerne wiederholen, was ich bei verschiedenen Gelegenheiten gesagt habe. Erstens ist das ein Begriff, der in Geschichte und Tradition der SPD eine große Rolle spielt. Zweitens, für die Zukunft sagt er vielleicht weniger aus als bisher. An den Stellungnahmen zu dieser Debatte ist sehr interessant, dass es eigentlich niemanden gibt, der begründet, was dieser Begriff noch bewirken soll. Es gibt Stellungnahmen, die lauten: Lass uns nicht dran rühren, weil es Bedeutung hat. Das ist in Ordnung, aber ich finde, es ist keine weitreichende Aussage. Andere Stellungnahmen lauten: Das hat eine Rolle in der Geschichte gespielt. Auch dies ist in Ordnung. Aber es ist etwas anderes, als zu sagen, dass es eine Gesellschaft jenseits derjenigen gibt, in der wir leben, eine Gesellschaft jenseits von Rechtsstaat, Demokratie, Sozialstaat und Marktwirtschaft.
Ich jedenfalls finde, dass die Idee einer Transformation keine ist, die unsere Partei noch verfolgt. Deshalb muss man vorsichtig mit einem solchen Begriff umgehen. Was sagt er eigentlich noch im Bezug auf unsere politischen Ziele aus? Kaum einer derjenigen, die sich zu diesem Thema äußern, behauptet, dass er damit ein Transformationsprojekt verbindet. Fast alle sagen: Nein, ein Transformationsprojekt ist es nicht. Aber es ist ein gutes Wort, das aus unserer Geschichte stammt. Das kann man so sehen, daran habe ich nichts auszusetzen. Nur meine ich, dass meine Frage damit noch nicht beantwortet ist.
Die SPD muss sehr langfristige Visionen aufzeigen können: Die Visionsfähigkeit der SPD kann nicht im Bundesrat enden. Es kann nicht so sein, dass die Partei nur Vorschläge formulieren kann, für die sofort eine Mehrheit im Bundesrat sicher ist und alles, was darüber hinausgeht, tabu ist. Unsere Visionsfähigkeit endet auch nicht an der Frage, ob man eine Vision morgen früh realisieren kann. Aber die Visionen der sozialdemokratischen Partei müssen so formuliert sein, dass diejenigen, die diese Visionen formulieren, sich die Realisierung des Gedachten vorstellen können. Ob in fünf, zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren, das ist dabei nicht so entscheidend. Wichtig ist, dass man einen Weg mit der festen Vorstellung beschreitet, tatsächlich am Ziel ankommen zu können. Deshalb sollten wir uns sehr langfristige Politikvorstellungen zutrauen, wir müssen visionär diskutieren.
V.
Uns geht es bei den Reformen der Agenda 2010 um Arbeit und Beschäftigung, es geht darum, dass mehr Beschäftigung entsteht. Hierbei ist es von Bedeutung, wie sich die Sozialversicherungsbeiträge in unserem Land entwickeln. Und es bedeutet einen Unterschied für Arbeit und Beschäftigung, ob die Sozialversicherungsbeiträge für Arbeitnehmer und Arbeitgerber 26 Prozent betragen (wie 1972 in der Regierungszeit von Willy Brandt), ob sie 32 Prozent betragen (wie zu der Zeit als Helmut Kohl ins Amt kam), oder ob sie mehr als 42 Prozent betragen (wie 1998, als Kohl sein Amt wieder verlor).
Reformen brauchen wir auch in der Arbeitsvermittlung, das ist ein wichtiger Teil der Reform. Es geht dabei nicht nur um die Entlastungen, die für die Gemeinden durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe entstehen, nicht nur um die Bündelung der Zuständigkeiten in einer kompetenten Struktur anstelle der Vielfalt, die wir jetzt mit unterschiedlichen Anlaufstellen für gleiche Sachverhalte und Lebenslagen haben. Es geht vor allem um die Aussage, dass man sich mehr und besser um die Menschen kümmern kann, die Arbeitsplätze verlieren, als das bisher in Deutschland der Fall gewesen ist. Da stehen wir im internationalen Vergleich sehr schlecht da. Und es ist unsere Verpflichtung, die Arbeitsvermittlung in Deutschland auf ein Niveau anzuheben, das mit dem der skandinavischen Länder vergleichbar ist. Auch in Großbritannien hat man die Erfahrung gemacht, dass sich individuelle Betreuung überaus positiv auswirkt.
Wir alle wissen, dass man mit Arbeitsvermittlung die Arbeitslosigkeit nicht von 4,3 Millionen auf Null bringen kann. Aber man kann Verbesserungen erreichen. Der jetzige Zustand ist ein Skandal, der über zwanzig, dreißig Jahre gewachsen ist. Diesen Skandal beenden wir jetzt, und darauf können wir sehr stolz sein.
Davon unabhängig stellt sich die Frage, wie ernst wir unsere eigenen Parteitagsbeschlüsse nehmen, besonders in der Frage Berufsausbildungsplätze für junge Leute. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit der dualen Berufsausbildung ein gutes System haben. Es ist ein System, das international gelobt wird und anderswo nachgemacht werden soll. Aber das Problem dieses Systems ist, dass es von den Entscheidungen vieler Unternehmer abhängt, die es als ihre moralische Verpflichtung betrachten, zu qualifizieren. Nur selten hat sich Ausbildung für den einzelnen Unternehmer wirklich gelohnt. Wer sich Arbeitnehmer suchte, die anderswo ausgebildet waren, der hat wirtschaftlich wahrscheinlich immer einen Vorteil daraus gezogen. Trotzdem haben viele Unternehmen mit großer Selbstverständlichkeit ausgebildet. Aber das hat sich geändert, diese Haltung ist zu Ende gekommen. Deshalb müssen wir mit allem Druck dafür sorgen, dass in dieser Frage etwas passiert. Wir haben auf unserem letzten Parteitag beschlossen, dass wir mit gesetzgeberischen Maßnahmen eingreifen werden, wenn kein ausreichendes Angebot an Ausbildungs-plätzen vorliegen sollte. Diesen Parteitagsbeschluss habe ich mit formuliert. Und wenn wir uns selbst ernst nehmen, dann gehört es dazu, auch diese Entscheidung des Parteitages ernst zu nehmen und zu realisieren, sollte sich die Wirklichkeit anders darstellen als wir sie uns wünschen.
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07.09.2003