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14.06.2007

Rede beim Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung

Politischer Klimawandel
 

Referat Olaf Scholz
vor dem Steering Committee des Managerkreises der Friedrich-Ebert-Stiftung am 14. Juni 2007


Zur im Herbst anstehenden Halbzeit der großen Koalition zwischen SPD, CDU und CSU mehren sich vor allem in den Medien und bei politischen Beobachtern, aber auch in der Partei selbst - die Fragen, wie es mit der SPD denn nach dieser Koalition weitergehen wird und wie die Erfolgsaussichten für die Bundestagswahl 2009 aussehen. Natürlich kann dies gut zweieinhalb Jahre vor dem Wahltermin niemand vorhersagen und jede Diskussion darüber muss sich mit Annahmen und Wahrscheinlichkeiten begnügen. Manches spricht dafür, den derzeitigen aufgeregten Debatten gelassen zu begegnen und dass die Aussichten für die SPD, im Herbst 2009 wieder den Bundeskanzler zu stellen, ganz gut sind.

1.
Im Herbst des nächsten Jahres wird die SPD Deutschland bereits 10 Jahre ohne Unterbrechung regiert haben. Das ist keine kurze Zeit. Zusammen mit den 16 Jahren zwischen 1966 und 1982, als die SPD das erste Mal in der neuen Bundesrepublik an der Regierung beteiligt war, ergibt sich eine Dauer des erheblichen Einflusses auf die Geschicke unseres Landes, die weder den immer wieder zu beobachtenden Kleinmut bei den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten noch die verbreitete Unterschätzung der SPD als Regierungspartei bei dem politischen Wettbewerb und den journalistischen und wissenschaftlichen Beobachtern plausibel erscheinen lässt.
2009, wenn der Bundestag wieder gewählt und die Bundesrepublik 60 Jahre alt wird, wird die SPD fast die halbe Zeit, 27 Jahre, Regierungspartei gewesen sein. Der CDU Staat, wie einst ein Buch hieß, ist schon lange passé. Auch der Blick auf drei sozialdemokratische Kanzler, auf Brandt, Schmidt, Schröder und auf zwei sozialdemokratische Bundespräsidenten, auf Heinemann, auf Rau sprechen für sozialdemokratisches Selbstbewusstsein.

2.
Das gilt umso mehr, als sich die politische Landschaft im vereinten Deutschland erheblich von der  der westdeutschen Bundesrepublik unterscheidet.Nach einer kurzen Frist, die viel mit den unbestreitbaren Verdiensten Helmut Kohls um die deutsche Einheit zu tun hatte, haben in allen Wahlen der vereinten Bundesrepublik Union und FDP keine Mehrheit im Parlament erringen können. Das war vorher anders; selbst während der sozialliberalen Koalition. Darum hatte 1982 - ohne Wahlen - der Koalitionswechsel der FDP zu einem Kanzlerwechsel führen können.
Noch eine Veränderung der politischen Landschaft sollte nicht übersehen werden. Zumindest für eine gewisse Zeit dürften meistens fünf Fraktionen dem deutschen Bundestag angehören. Sowohl die Grünen (mithilfe von Bündnis '90) als auch die PDS (mithilfe direkt gewählter Abgeordneter) haben die Bedrohung ihrer politischen Existenz durch die 5%-Klausel jeweils überstanden und dürfen sich einigermaßen sicher sein, nicht demnächst doch an ihr zu scheitern.
In dieser Landschaft sollten alle kühlen Köpfe davon ausgehen, dass Mehrheiten einer großen Partei mit einer kleinen eher selten möglich sein dürften. Ganz selten sind Mehrheiten von Union und FDP zu erwarten. Ausnahmen sind natürlich immer möglich. Dass gleich die Wahlen nach 1990 wiederholt von solchen Ausnahmesituationen geprägt waren, mag dazu verführen, die neue Landschaft nicht zu erkennen. Aber es waren solche: Zweimal konnte Helmut Kohl mit dem Einheitsbonus seiner schwarz-gelben Koalition zur Mehrheit verhelfen. Dem Überdruss der Wähler an der langen Kanzlerschaft Kohls wiederum hatte Gerhard Schröder einen übergroßen Wahlsieg zu verdanken, der es ermöglichte, mit einem kleinen Koalitionspartner, den Grünen, gegen drei Parteien zu regieren. 2002 half dem rot-grünen Bündnis, dass die PDS nur mit zwei Abgeordneten in den Bundestag zurückkehrte. Das aktuelle Parlament dürfte trotz der zu erwartenden Verschiebungen des Gewichtes der einzelnen Parteien bei künftigen Wahlen auch die typische Konstellation der nächsten Bundestage wiedergeben.

3.
Die Zusammensetzung der Parlamente in der neu entstandenen politischen Szenerie lässt große Koalitionen unter christdemokratischer oder sozialdemokratischer Führung zu. Mit großen Koalitionen hat die Republik schon Erfahrungen im Bund und den Ländern sammeln können. Schlechte waren es nicht. Und bei allen durchaus erheblichen - politischen Unterschieden wissen Wähler und Parteien dieser Koalition, worüber sie sich verständigen können und worüber nicht. Deshalb war es auch kein Wunder, dass nach dem Wahlergebnis 2005 diese Option nach kurzem Zögern von SPD und Union ergriffen wurde. Erfahrungen mit den anderen rechnerisch möglichen Koalitionsoptionen in der neuen Normallage
des deutschen Parlamentes gibt es nicht. Es ist schon verwunderlich, wie wenig diesem Umstand bei den wilden Koalitionsspekulationen in den Nachwahlbetrachtungen 2005 Rechnung getragen wurde. Dabei dürfte das eine Rolle dabei gespielt haben, dass andere Möglichkeiten nicht wirklich in Betracht gezogen wurden.
Es lohnt sich, zu bedenken, worüber sich die Parteien einer Ampelkoalition, also SPD,FDP und Grüne oder die Parteien einer Jamaikakoalition, also Union, FDP und Grüne einigen könnten und worüber nicht. In beiden Fällen dürfte die Liste derjenigen Themen über die keine Einigkeit erzielt werden könnte, schnell aufzustellen sein. Die Gemeinsamkeiten sind in beiden Konstellationen nicht leicht zu entdecken. Allerdings lassen sich für die Ampelkoalition auf den Gebieten der Familienpolitik, der Liberalität und der Außenpolitik ausdrückliche Überschneidungen feststellen. In manchem anderen Politikfeld erscheinen
Arrangements möglich. Die bislang erörterten Überschneidungen der Parteien einer Jamaikakoalition entspringen mehr den Wunschträumen eines Teils des Establishments als politischen Realitäten. Noch findet sich bei den Grünen nur eine kleine Anhängerschaft für eine Vereinbarung, die für ein bisschen mehr Umweltschutz bereit wäre die Steuern von Großverdienern zu senken und Arbeitnehmerrechte abzubauen. Zumal der Umweltschutz auch mit anderen Konstellationen vorankommt und die Kernkrafteuphorie bei Union und FDP eher zu- als abnimmt. Eine solche Koalition würde sich wohl weitgehend gegenseitig und auch den Fortschritt im Lande blockieren. Gemeinsame Themen  für die Weiterentwicklung unseres Landes sind nicht sichtbar. Manchem politischen Feuilleton geht es aber mehr um die Versöhnung von grünem Sohn und konservativem Papa. Manchmal wird auch daraus Politik. Wahrscheinlich ist das in der Bundespolitik mit deren Themen nicht.
Sowohl im Falle einer Ampelkoalition als auch im Falle einer Jamaikakonstellation würden die Parteien dieser Koalitionen Kompromisse schließen und ihren Wählerinnen und Wählern erklären müssen, mit denen die vor der Wahl nicht gerechnet haben. Das gehört in einem Land mit Koalitionsregierungen zum politischen Geschäft. Nur ist das nicht leicht und wird, wenn drei Parteien zusammenkommen, nicht leichter. Wer die möglichen Koalitionsagenden durchdenkt, wird bald feststellen, dass gerade die in mancher Redaktion bevorzugte Jamaikakonstellation die geringsten Schnittmengen und die meisten Zumutungen für die Vorstellungen der Anhängerschaften der beteiligten Parteien mit sich brächte. Ihre Basis hätte eine solche Konstellation deshalb weniger in einem konkreten gemeinsamen Programm, als in der politischen Verständigung eines bestimmten, sozial weitgehend identischen Milieus. Es wäre
in einer Zeit, in der überall von Inklusionsstrategien gesprochen wird, die trotzige Exklusionsentscheidung eines Teils der Mittelschichten gegenüber dem Rest ihrer Mitbürger, die als kleine Leute SPD wählen. Der Versuch könnte riskant sein, denn nicht wenige davon wählen nicht nur SPD, sondern auch die Union und manchmal die Grünen. Für die politischen Chancen von Union und SPD wird es jedenfalls darauf ankommen, welche der beiden großen Volksparteien neben der großen Koalition noch andere realistische Koalitionsoptionen hat. Das beeinflusst bereits die Mobilisierungschancen in den Wahlkämpfen und ist nicht erst nach der Wahl von Belang.

4.
Zur politischen Landschaft gehört auch die PDS/Linkspartei/WASG/Die Linke. Wenn auch spiegelbildlich verkehrt und inhaltlich verschieden, hat sie die aktuelle Funktion der FPÖ im österreichischen Parlament. Sie will im Bund mit niemandem zusammen regieren. Alle anderen auch nicht mit ihr. In Österreich kann keine rechte Regierung gebildet werden,  aber z.B. Rot-Grün ist dort ohne Mehrheit. In Deutschland kann keine linke Regierung gebildet werden, aber Schwarz-Gelb ist ohne Mehrheit.
Übrigens hat noch niemand die politisch durchaus delikate Frage untersucht, was es eigentlich bedeutet, dass in Österreich ein sozialdemokratischer  Kanzler eine große Koalition anführt in einem Land mit rechter Gesetzgebungsmehrheit, die eben nicht regierungsbildungsfähig ist, - und dass in Deutschland eine konservative Kanzlerin einer großen Koalition vorsteht, mit einer eher linken Gesetzgebungsmehrheit, die nur ebenfalls nicht regierungsbildungsfähig ist.

5.
Nicht nur die politische Landschaft hat sich verändert, sondern auch das Meinungsklima: Seit Beginn der achtziger Jahre prägten in Deutschland eher wirtschaftsliberale Vorstellungen die  Meinungen der Eliten; zunehmend verbreitete sich dieses Meinungsbild auch in der Bevölkerung. Es ist keine Übertreibung, von einem neoliberalen  mainstream  zu sprechen. Die nun doch schon lange Zeit der sozialdemokratischen Regierungsbeteiligung hat das verändert. Die große Koalition mit ihrer gemäßigt sozialdemokratischen Agenda verstärkt diesen Trend noch. Denn auch der konservative Koalitionspartner kann nicht ständig das eigene Regierungshandeln hinterfragen und wird das vereinbarte Programm der Koalition
rechtfertigen. Natürlich kann noch nicht von einer Vorrangstellung sozialdemokratischen Denkens gesprochen werden: Aber die Zeiten und Stimmungen haben sich verändert. Die politische Großwetterlage bringt ein für die SPD freundlicheres Meinungsklima mit sich. Der neoliberale mainstream hat gedreht und ist vermutlich längerfristig - einer sozialen Grundströmung gewichen; nicht nur in Deutschland übrigens, wie die Debatte über Welthandel, Armut in der Welt und auch den Klimawandel zeigt. Natürlich ist auch eine solche Lage für die SPD nicht leicht. Wenn alle sozial sein wollten,
könnten öffentlich die Unterschiede verwischen. Aber die daraus entstehenden Probleme sind letztlich angenehme.

6.
Der politische Klimawandel hat eine klar zu benennende Ursache: Die SPD hat den Sozialstaat gerettet. Das ist eine im Nachhinein unübersehbare Leistung der Kanzlerschaft Gerhard Schröders. Seine Agenda 2010 wurde dämonisiert und glorifiziert. Sie wurde auch überschätzt. Das gilt auch für den bei Gegnern und Befürwortern der Reformen verbreiteten Hang zur ideologischen Überhöhung letztlich doch recht pragmatischer und wenn man so will systemimmanenter Anpassungsmaßnahmen. Tatsächlich handelte es sich bei den Reformen der den deutschen Sozialstaat prägenden Sozialversicherungen um heftige Sanierungsmaßnahmen, die vielen Menschen Zumutungen abverlangt haben.  Deren Ziel war es aber nicht, den Sozialstaat abzuschaffen, wie manche befürchteten und andere hofften. Es war das Ziel, Einnahmen und Ausgaben langfristig zur Deckung zu bringen und sicherzustellen, dass für immer noch
ordentliche Leistungen z.B. der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, die Belastung der die Beiträge aufbringenden Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht so hoch ausfällt, dass die Legitimation des ganzen Systems der sozialen Sicherung darüber in Gefahr gerät. Das ist nicht wenig und erforderte Mut. Die Koalition von Union und Sozialdemokraten hat diesen Weg fortgesetzt. In der Wissenschaft mehren sich die Stimmen, die z.B. im Hinblick auf die Rentenversicherung die notwendigen
Reformen als erledigt beschreiben. (Natürlich bleibt noch etwas zu tun; aber nicht so sehr im Hinblick auf die Rechnungsgrundlagen als im Hinblick auf die stets notwendige Einzelfallgerechtigkeit.)
Die Reform der Arbeitsvermittlung verfolgte auf dem Gebiet des Arbeitsmarktes ähnliche Zielsetzungen. Es ging um die Erhöhung der Mobilität unter den Bedingungen von Kündigungsschutz, Betriebsverfassung und Unternehmensmitbestimmung, die zu den großen Errungenschaften der deutschen Arbeiterbewegung gehören. Und es ging bei der Reform der Arbeitsvermittlung darum, sich den Herausforderungen einer sich seit Anfang der achtziger Jahre verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit zu stellen. Die Arbeitsvermittlung zur am besten funktionierenden öffentlichen Institution auszubauen, die den Menschen in der für viele bedrückenden Lage beisteht, wird noch lange auf der Tagesordnung stehen. Damit wurde
durch die Reformen immerhin begonnen. Der politische Gewinn dieser Reformen liegt vor allem darin, dass der deutsche Sozialstaat auch in Zeiten raschen wirtschaftlichen Wandels und unter den Bedingungen der Globalisierung eine Zukunft hat. Das ist wichtig für die Menschen, die auf den Sozialstaat setzen und natürlich auch für die Sozialstaatspartei SPD.
Um so mehr sich der Eindruck verfestigen wird, dass die für den Sozialstaat notwendigen Sanierungsmaßnahmen hinter uns liegen, um so weniger wird auf die gehört werden, die hinter
der Fahne der Globalisierung gegen den Sozialstaat kämpfen. Noch sind wir nicht soweit. Jahrelang sind die Zweifel an der Zukunftstüchtigkeit des Sozialstaates gewachsen. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger ist auch durch die fehlende Glaubwürdigkeit mancher Politikeraussage untergraben worden. Blüms berühmt-berüchtigtes Versprechen, dass die Rente sicher sei,  ist ja nur eine davon. Und die
Leute vergessen ihre Zweifel nicht so schnell. Aber immerhin, nachdem die wesentlichen Sanierungsschritte getan sind, kann das Vertrauen allmählich wieder wachsen. Wer das erreichen will, muss auch davon sprechen, dass jetzt weitere Einschränkungen der Leistungen der sozialen Sicherungssysteme nicht auf der Tagesordnung stehen. Das wird Widerspruch von meinungsbildenden Personen  und meinungsmächtigen Gruppen erfahren. Sie werden einen reformfeindlich nennen und ahnungslos. Dagegen lassen sich sachlich gute Argumente vorbringen. Das gewichtigste Argument der Sozialstaatspartei sind aber wohl Schröders Reformen.
Reformen waren nötig. Und eine solche Situation kann sich in unseren schnelllebigen Zeiten immer wieder ergeben. Trotzdem ist es nötig, dass wer Sanierungsmaßnahmen ergreift, irgendwann auch ihren Erfolg meldet und vom turn-around spricht. Sonst erfahren die Menschen, die für die Reformen gewonnen werden sollen, das ganze Geschehen als Rutschbahn ohne Ende. Das kann nicht funktionieren.
Die Sanierungsreformen waren nicht ein ritueller Selbstkasteiungsakt, den jeder vollziehen muss, der als ernsthafter Reformpolitiker anerkannt sein will. Vielmehr lag ihnen die sachliche Einschätzung zugrunde, dass diese Reformen für die langfristige Sicherung unseres Sozialstaates notwendig sind. Wenn es aber sachliche Einschätzungen Grundlage der Reformen waren, muss es auch die sachliche Einschätzung geben können, dass die Sanierung weit gediehen ist.
Dass der Sozialstaat eine Zukunft hat, ist wieder plausibel geworden. Für die fortschrittlichen Menschen in Deutschland ist es von existentieller Bedeutung, dass sie diesen Standpunkt einnehmen. Wenn die Anhänger und Nutznießer des Sozialstaates über diesen vorwiegend schlecht gelaunt sind, wird es ihm auf Dauer an ausreichender Legitimation fehlen. Und die diese schlechte Laune verbreiten, erledigen nur das Werk derjenigen, die ihn loswerden wollen.

7.
Der Partei des Sozialstaates hilft auch die gute Konjunktur. Sie füllt nicht nur die Kassen der Sozialversicherungen und von Bund, Ländern und Gemeinden. Neben der im Grunde bewältigten Sanierung nimmt sie denen, die nach weiterem Sozialabbau rufen, den Wind aus den Segeln. Sollte das ökonomische Glück den Deutschen noch eine Zeit gewogen bleiben, werden ihre Argumente nicht mehr verfangen.

8.
Sowohl die Tatsache, dass die Aufgabe der Sanierung der sozialen Sicherungssysteme bereits angepackt wurde, als auch die gute Konjunkturentwicklung schaffen die Möglichkeit, dass  auch die Anhängerinnen und Anhänger der SPD, die den Reformprozess mit großer Skepsis  oder gar Ablehnung begleitet haben, wieder auf die SPD setzen. Es entsteht Anschlussfähigkeit auch für die, die die Reformen nicht mitgetragen haben. Da Rechthaberei kein kluges politisches Verhalten ist, reicht es, gemeinsame Ziele in der Zukunft zu beschreiben. Da gibt es mehr als das gemeinsame Bekenntnis zum Sozialstaat. Etwa bei der Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit in den sozialen Sicherungssystemen stehen noch unbestritten
ungelöste Aufgaben an, z.B. im Bereich der Rentenversicherung.  Anschlussfähig ist auch das Bemühen um gesetzliche Mindestlöhne. Diese Forderung und noch mehr ihre erfolgreiche Durchsetzung hat eine weitreichende Bedeutung. Mindestlöhne sind die notwendige Ergänzung der Arbeitsvermittlungsreform. Wer den Menschen größere Mobilität zumutet, muss sie vor unanständigen Löhnen schützen. Mindestlöhne stellen nicht die Arbeitsvermittlungsreform in Frage, sondern sind integraler Teil eines schlüssigen Gesamtkonzeptes zur  Neuordnung des Arbeitsmarktes. Im Übrigen gehören sie dazu, wenn wir uns für eine inklusive Gesellschaft einsetzen. Einem nicht unerheblichen Teil unserer
Bürgerinnen und Bürger kann wohl mit wenigem so sehr geholfen werden wie mit anständigen Mindestlöhnen. Anständige Mindestlöhne vermitteln den auf solche Regelungen angewiesenen,
dass die Gesellschaft sie ernst nimmt und ihrem anstrengenden Leben den gebührenden Respekt erweist. Außerdem beweisen Mindestlöhne, dass Politik sich auch für sie lohnen kann und es durchaus darauf ankommt, wer regiert. In der politischen Debatte um Mindestlöhne wird deutlich, dass nicht wie oft behauptet wird - alle Parteien gleich sind.

9.
Der SPD nützt ebenfalls die große Koalition; weil sie für die Leistungen der Koalition Verantwortung trägt; weil sie nicht neidisch zusehen muss, wie eine  Nachfolgeregierung die Erfolge der Regierung Schröder auf dem Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft einheimst; und weil sie die Zeit gewinnt, dass die Wunden der anstrengenden Reformpolitik verheilen. Deshalb ist die SPD gut beraten, auf den durch die große Koalition noch beschleunigten politischen Klimawandel zu ihren Gunsten zu setzen und relativ ruhig das Auf und Ab der Wahlumfragen  zu beobachten.

10.
Die Probleme suchen sich ihre Mehrheiten. Das gilt für die aktuelle Regierung. Die große Koalition hat ihre Berechtigung nicht nur darin, dass auf andere Weise eine Regierung nicht zu bilden war. Sie hat auch ein Programm, dessen Realisierung unserem Land nützt. Offenbar waren die Probleme, die sich z.B. im Hinblick auf die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staates entwickelt hatten, - nicht zuletzt wegen der Blockade durch den unionsdominierten Bundesrat -, nur mit einer großen Koalition zu bewältigen.
Die Wiederherstellung der finanziellen Handlungsfähigkeit des Staates, die sich abzeichnende Trendwende in der Entwicklung der Staatsverschuldung, der Abbau von Steuervergünstigungen, die Haushaltskonsolidierung auch durch zusätzliche Einnahmen (Mehrwertsteuer), die zusätzliche Besteuerung von Spitzeneinkommen (Reichensteuer), die Fortsetzung der unter Schröder begonnenen Unternehmenssteuerreform, die Reform der Erbschaftssteuer entlang der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes,  die Reform der föderalen Beziehungen (Föderalismusreform I) und der Versuch auch die föderalen Finanzbeziehungen neu zu ordnen (Föderalismusreform II), die Weiterentwicklung des Ausländerrechtes, die Gesundheitsreform, die Reform der Pflegeversicherung sind in der Verfassungswirklichkeit der föderalen Bundesrepublik nur mit der Kraft beider Volksparteien durchzusetzen. Das meiste davon ist bewerkstelligt oder auf gutem Wege.
Zugegeben: Nicht alle Reformen folgen einer idealen Linie, schon gar nicht immer einer sozialdemokratischen. Aber wie soll das bei Kompromissen dieser Dimension gelingen. Immerhin
bilden sie auch die Basis künftiger gesetzlicher Weiterentwicklungen. Wer wollte z.B. die bei der Gesundheitsreform durchgesetzte Versicherung aller Bürgerinnen und Bürger wieder rückgängig machen?

11.
Probleme suchen sich ihre Mehrheiten. Das gilt auch für künftige Regierungen. Koalitionsoptionen brauchen nicht nur rechnerisch mögliche Mehrheiten im Parlament, sondern auch eine politische Agenda auf die sich die möglichen Koalitionsparteien, vor dem Hintergrund  ihrer Programme und Problemsicht, verständigen könnten. Grundlage einer Jamaikakoalition unter Einschluss der Grünen wäre, dass es für die Kernparteien dieser Koalition, Union und FDP, eine öffentlich verständliche Agenda gibt. Da entsteht immer mehr das Problem, dass der vernünftige Teil  einer schwarz-gelben Agenda getan ist. Am Beispiel
der Unternehmenssteuerreform wird deutlich: Was noch an schwarz-gelben Reformzielen formuliert werden könnte, wäre von maßlosen und extremen Haltungen getragen, die die sozialen Traditionen unseres Landes infrage stellen. Für die weitere Senkung der Steuern  auf Spitzeneinkommen, der Unternehmenssteuern oder die Verschlechterung des Kündigungsschutzes und der Mitbestimmung gibt es keine Mehrheit in Deutschland. Die sicher nach wie vor in der Union mehrheitsfähigen Beschlüsse des Leipziger Parteitages der CDU polarisieren das Land und werden von den meisten Menschen in Deutschland nicht richtig gefunden. Mit dem Fehlen einer programmatischen Basis, ist auch die  politische Basis einer Jamaikakonstellation futsch. Es fehlt an den Problemen, die sich eine schwarz-gelb-grüne
Mehrheit suchen müssten. Das ist, wie geschildert, für die Optionen der SPD anders. Die SPD hat mehr Optionen als die Union. Das wird sich 2009 auf Mobilisierungschancen auswirken und ist natürlich auch für die Zeit danach wichtig. Übrigens: Wegen der Aussicht der FDP auf Zweitstimmen von der Union wird diese Partei bis zum Wahltag eine schwarz-gelbe Koalition als möglich und erstrebenswert bezeichnen.

12.
Weil die Union auch eine Ahnung davon haben könnte, dass der Leipziger Kurs selbst bei den eigenen Wählerinnen und Wählern nicht mehrheitsfähig wäre, wird sie wahrscheinlich nicht mit einem eigentlichen Programm antreten, sondern mit  Camouflage. Dafür gibt es Beispiele in anderen Ländern (Schweden, Großbritannien). Das ist also eine mögliche Strategie der Union. Und es wird viele Scheinthemen geben. Darauf wird sich die SPD einstellen müssen.

13.
Für die Chancen der SPD wird es auch darauf ankommen, dass sie sich auf der Seite des Fortschritts weiß. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung hat der Zukunft immer optimistisch entgegengesehen. Mit uns zieht die neue Zeit, lautete die Formel und sollte sie auch immer noch lauten. Wir werden also angesichts der Gefahren, die der ökologischen Stabilität unserer Welt drohen, eine ökologische Industriepolitik entwickeln, die von der Vorstellung getragen wird, dass die Probleme gelöst werden können. Wir werden uns zutrauen müssen, das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit lösen zu können. Wir haben Strategien gegen Unterentwicklung und für eine friedliche Welt, von denen wir glauben, dass sie verfangen. Und wir dürfen keine Angst vor der Globalisierung haben. Wir können darauf hinweisen, dass
gerade unser Land davon profitiert. Als Sozialdemokraten weisen wir darauf hin, dass das nicht für alle in unserem Land gilt. Wessen Betrieb geschlossen und verlagert wird, wessen Lohn sinkt, wird die Auswirkungen der Globalisierung nicht bejubeln und fühlte sich nicht ernst genommen, wenn seine Lage nicht angesprochen wird. Unser Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass alle profitieren und dass niemand alleine gelassen wird

14.
In der neuen politischen Landschaft und dem veränderten politischen Klima rückt die SPD immer mehr in das Zentrum. Sie sollte auch wie die zentrale Partei der Republik auftreten; mit der dazugehörenden Gelassenheit. Gegenüber der Union und der FDP kann sie darauf setzen, dass die Vorstellungen der SPD heute denen einer solidarischen Mehrheit der Gesellschaft entsprechen. Mit den Wettbewerbern von der extremen Linken und  des linken Bürgertums sollte die SPD dort, wo sich die politischen Anliegen überschneiden, nicht in Überbietungswettbewerbe eintreten, sondern auf ihre bestehende pragmatische Kompetenz setzen.