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05.04.2001

Rede im Bundestag am 5.4.2001

5.4.2001 - Bundestag
Rede anläßlich der Einbringung des Gesetzentwurfs zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes

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Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kollegen Olaf Scholz, SPD-Fraktion, das Wort.
Olaf Scholz (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren hier über ein sehr wichtiges Gesetz. Denn in Deutschland gehören Demokratie, freie Marktwirtschaft und Betriebsverfassung zusammen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das erste Betriebsrätegesetz stammt aus dem Jahre 1920, gleich nachdem das erste Mal in Deutschland eine Demokratie etabliert worden ist, und es ist 1934 von den Nationalsozialisten abgeschafft worden. 1946 ist durch das Kontrollratsgesetz Nr. 22 die Betriebsverfassung mit einem Betriebsrätegesetz wieder eingeführt worden. 1952 hat der Deutsche Bundestag die Betriebsverfassung in den Rang erhoben, den wir heute kennen. 1972 hat die sozialliberale Koalition die Betriebsverfassung erneut reformiert. Es gibt in Deutschland keine relevanten Zeiten von Demokratie, in denen es keine Betriebsräte gegeben hätte. Dieser Zusammenhang muss hier betont werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es ist deshalb sehr bedauerlich, dass vor allem aus der F.D.P. heraus, mit der wir immerhin einmal in einer sozialliberalen Koalition eine Betriebsverfassung beschlossen haben,
(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Vielleicht
irgendwann wieder, Herr Scholz!)
Diskussionen zur Betriebsverfassung geführt werden, die letztlich darauf hinauslaufen, dass die Betriebsverfassung abgeschafft wird. Denn dies ist es, was Sie vorschlagen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wenn Sie die Möglichkeit schaffen wollen, dass man auf Betriebsräte verzichten kann, dann wollen Sie letztendlich nur einen Weg finden, wie man diese endlich loswerden kann.
(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das passiert doch jetzt schon in 90 Prozent der Unternehmen, Herr Scholz!)
In dieser Frage müssen Sie sich noch weiterentwickeln.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir legen eine sehr kluge und eine sehr konstruktive Reform vor. Dass das so ist, hat man an dem Beitrag des Kollegen Weiß gemerkt, für den ich mich ausdrücklich bedanken möchte. Wenn man nicht auf die drei Zwischentöne hören würde, dann wüsste man gar nicht, warum er dem Gesetz nicht zustimmen will.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Auch er hat betont, dass es sich um ein konstruktives Gesetz handelt, er hat Themen benannt, die mit dieser Reform bearbeitet werden. Das macht letztendlich deutlich, dass man gegen den Reformentwurf, den wir vorgelegt haben, eigentlich, wenn man die Betriebsverfassung für wichtig hält, nichts haben kann - von Detaildiskussionen einmal abgesehen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich will deshalb zu dem Punkt etwas ausführen, der in der Diskussion eine wichtige Rolle spielt, nämlich zu der Frage der Entbürokratisierung und Flexibilisierung.
(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Ja!)
Beides wird mit dieser Betriebsverfassung gewährleistet. Jeder, der diese wichtige Forderung immer im Munde führt, müsste jetzt Hurra schreien, nachdem die Bundesregierung den Gesetzentwurf vorgelegt hat. Wir haben viele Möglichkeiten geschaffen, wie man den veränderten Betriebswirklichkeiten Rechnung tragen kann und Betriebsräte auch in Konzernen, in outgesourcten Bereichen oder sonstigen Unternehmensstrukturen bilden kann. Wir haben sogar Formen vorgesehen, die auch gut für Internetunternehmen sind, bei denen wir nicht mehr wissen, wo sich der Betrieb eigentlich befindet, auf irgendeinem Server oder sonst wo. Auch da sind jetzt Regelungen möglich.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Aber Ihre Kritik an der Betriebsverfassung - wenn Sie sagen, das sei gar nicht so - zielt auf etwas ganz anderes ab. Wenn Sie von Entbürokratisierung sprechen, dann haben Sie nicht im Sinn, dass es einfacher gehen soll, vielmehr wollen Sie, dass es eine Betriebsverfassung nicht geben soll.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Hans Michelbach [CDU/CSU]: Demokratischer muss es sein!)
Und wenn Sie Flexibilisierung sagen, dann meinen Sie die Beseitigung von demokratischen Rechten für Betriebsräte.
Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Scholz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Olaf Scholz (SPD): Ja.
Dr. Heinrich L. Kolb (F.D.P.): Herr Kollege Scholz, Sie werden doch nicht abstreiten wollen, dass es schon heute zu lange Mitbestimmungsverfahren gibt und dass es insbesondere zu sachwidrigen Kopplungen in diesem Bereich kommt. Ich zitiere - und ich bitte dazu um Ihre Stellungnahme; meine Frage lautet, wie Sie das bewerten - aus einer Broschüre des DGB-Bundesvorstandes "Betriebsverfassungsgesetz - Forderungen aus der Praxis". Darin heißt es:
Um sich auch in Fragen durchzusetzen, bei denen sie nicht mitbestimmen können, haben clevere Betriebsräte folgende Technik entwickelt: Wenn sie mit dem Arbeitgeber in einer nicht mitbestimmungspflichtigen und in einer mitbestimmungspflichtigen Sache verhandeln, machen sie ihre Zustimmung zu dieser von einer Einigung in jener Angelegenheit abhängig.
Dann heißt es weiter:
Immer mal wieder verweigert die Personalvertretung die Zustimmung zu Mehrarbeit oder zu personellen Einzelmaßnahmen und kauft sich auf diese Weise ein Initiativrecht ein, wo sie eigentlich gar keines hat.
Meine Frage: Sehen Sie vor dem Hintergrund dieser Veröffentlichung des DGB-Bundesvorstandes einen Handlungsbedarf oder nicht?
Olaf Scholz (SPD): Ich sehe vor dem Hintergrund der Veröffentlichung des DGB-Bundesvorstandes überhaupt keinen Handlungsbedarf.
(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)
Ich möchte Ihnen auch sagen, warum: Sie verkaufen sich ja gern als die Partei der Kaufleute. Insofern müssten Sie wissen, dass es auf der Welt überhaupt nichts gibt, bei dem nicht das eine mit dem anderen in Verbindung gebracht wird.
(Beifall bei der SPD - Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist die Antwort?)
Das ist etwas, womit Sie sich eigentlich auskennen sollten, und das macht die Betriebsverfassung hier auch möglich. Insofern ist das gar kein Problem.
Aber ich will, weil Sie das angesprochen haben, noch etwas zur Frage der Flexibilität und zur Dauer solcher Verfahren sagen. Wenn wir uns die gegenwärtige Betriebsverfassung genau ansehen, dann stellen wir fest, dass es sehr schwierig ist, einen Betriebsrat zu wählen. Das wird jetzt einfacher gemacht, indem wir ein einfaches Wahlverfahren für Betriebe mit bis zu 50 Beschäftigten haben. Das ist Entbürokratisierung und darüber sollten Sie sich freuen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])
Ich will noch etwas zu der Entbürokratisierung sagen, die mit dem vereinfachten Wahlverfahren in kleinen Betrieben zusammenhängt. Das ist ja der Punkt, über den sich die meisten aufgeregt haben. In Wahrheit zeigt das, worum es geht, wenn man bestimmte Worte verwendet, aber eigentlich etwas ganz anderes meint. Denn wenn es einfacher ist, einen Betriebsrat zu wählen, dann gibt es natürlich auch mehr Betriebsräte. Das ist die gesetzeskonforme Idee dieses Entwurfs, die Idee, die wir haben, wenn man für Betriebsräte ist. Die Aufregung, die aufgekommen ist, kommt nur deshalb zustande, weil man meint: Ja, tatsächlich wird es mehr Betriebsräte geben, weil es einfacher ist, sie zu wählen. - Deshalb sind Sie plötzlich für bürokratische Hürden, die es schwer machen, einen Betriebsrat zu wählen. Das ist der Fehler in Ihrer Diskussion.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN -
Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Wir wollen ein Quorum!)
Sie plädieren also für Bürokratie, damit man Betriebsräte nicht zustande kommen lässt, und das ist etwas, was wir nicht wollen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Warum haben Sie denn Angst vor dem Quorum?)
Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung: Das Wahlverfahren für Betriebsräte ist heute so schwer und enthält so viele Anforderungen, dass es komplizierter ist als eine Bundestags- oder eine Landtagswahl. Herr Koch wäre, wenn er Betriebsratsvorsitzender wäre, schon längst von einem Gericht wegen Nichtigkeit der Wahlen abgesetzt worden. So ist das!
(Beifall bei der SPD)
Ich möchte bei dieser Gelegenheit über ein schein- demokratisches Argument sprechen, das angeführt worden ist und das leider auch Herr Weiß in seinem ansonsten sehr konstruktiven Beitrag aufgegriffen hat, nämlich die Forderung, dass man in den Betrieben hinsichtlich der Frage, ob man einen Betriebsrat bilden soll, ein Quorum benötigt. Das ist nur scheinbar eine demokratische Forderung und das ist auch nichts besonders Schönes. Denn wer sich wirklich einmal mit der Situation in den Betrieben auseinander gesetzt hat, der weiß, dass es Betriebsinhaber gibt - nicht die Mehrheit übrigens; die sind nicht so, wie die F.D.P. sie sich schnitzt -, die sich für enteignet halten, wenn in ihrem Unternehmen ein Betriebsrat gebildet wird, und die mit allen Möglichkeiten versuchen, das zu verhindern, auch mit Entlassungen, mit fristlosen Entlassungen, mit Druck und all diesen Dingen. Wenn wir eine Abstimmung über die Frage zuließen, ob ein Betriebsrat gebildet werden soll, dann würden wir es möglich machen, dass schreckliche Szenen unsere Betriebe und den Betriebsfrieden in unseren Betrieben zerstören. Das wollen wir verhindern.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS - Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der Unternehmer ist Ihr Feindbild!)
Deshalb sage ich: Es gibt in Deutschland keinen Betriebsrat, der zustande gekommen ist, ohne dass ihn die Mehrheit der Beschäftigten auch haben will. Das, was hier gefordert wird, liefe auf eine Zerstörung des Betriebsfriedens hinaus. Das kann niemand wollen, der unsere Betriebsverfassung mit ihrer langen Tradition schätzt.
(Beifall bei der SPD)
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, den ich für die wichtigste inhaltliche Verbesserung im Rahmen der Betriebsverfassungsreform halte: Die Bundesrepublik Deutschland lebt davon, dass bei uns gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer existieren. Sie lebt davon, dass diese qualifiziert an den Tätigkeiten in den Betrieben teilnehmen. Sie hat davon gelebt, dass die deutschen Unternehmen viel investiert haben, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern das Mithalten bei der wirtschaftlichen Entwicklung zu ermöglichen. Qualifikation hat am Wirtschaftsstandort Deutschland immer eine große Rolle gespielt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Aber wenn wir uns jetzt umschauen, dann stellen wir fest, dass diese Tugend ein bisschen rückläufig ist, dass sich die Unternehmen für diese zentrale Aufgabe weniger verantwortlich fühlen, die für die Sicherung der Be- schäftigung in unserem Lande von Bedeutung ist. Weil das so ist, ist es eine ganz bedeutende Innovation, dass die Betriebsräte in die betriebliche Berufsbildung mit eingebunden werden, dass sie die Möglichkeit haben, initiativ zu werden, damit Beschäftigte weiterqualifiziert werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Denn es ist doch eine gute Situation: Neue Techniken werden eingeführt; dafür sind die Betriebsräte in unserem Land immer eingetreten. Modernste technische Anlagen werden angeschafft; dafür sind die Betriebsräte immer eingetreten. Zu ermöglichen, dass die Beschäftigten mit den Anforderungen, die mit dieser technischen Entwicklung einhergehen, mithalten können, ist für den Produktionsstandort, den Bildungsstandort und den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland wichtig. Wir haben das möglich gemacht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Betriebsverfassungsreform ist modern. Sie führt dazu, dass die lange Tradition der Einheit von Demokratie, Marktwirtschaft und Betriebsverfassung in unserem Lande aufrechterhalten werden kann. Wir sollten uns gemeinsam über diesen wichtigen Reformschritt freuen und dafür sorgen, dass er in den nächsten Jahren in unserem Lande Wirklichkeit wird.

Schönen Dank

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist doch ein Rückschritt! - Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Herr Scholz, Sie wissen das doch besser!)