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02.12.2004

Rede im Deutschen Bundestag am 2. Dezember 2004

Olaf Scholz (SPD):


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, Herr Gehb hat etwas missverstanden. In dem Untersuchungsausschuss, den er beantragt, geht es nicht um das, was er schon immer an den Grünen nicht leiden konnte.

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist über zwei wichtige gute Dinge zu berichten, die Gegenstand des Untersuchungsausschusses werden sollen und die dazu führen, dass wir uns jetzt mit den Problematiken beschäftigen müssen und auch wollen.
Erstens. Wir leben in einem schönen Land. Deutschland ist ein schönes Land. Es ist wirtschaftlich stark. Seine Unternehmen haben weltweite Kontakte

(Zuruf von der CDU/CSU: Zur Sache!)

und viele Menschen wollen mit diesen Unternehmen Geschäftsbeziehungen haben. Dazu gehört, dass man einander begegnet.

Wir sind ein gutes Land, was die Wissenschaft und die Bildung betrifft; wir sind ein guter Wissenschaftsstandort. Das ist der Grund, warum viele Menschen in dieses Land reisen:

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wir reden von Schleusern!)

Sie wollen von unserer Bildung und unserer Wissenschaft profitieren. Wir brauchen weltweite Kontakte für die Wissenschaft dieses Landes.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Gernot Erler [SPD]: Das soll auch so bleiben!)

Hier leben freundliche, gute Menschen, die auch besucht werden wollen. Deshalb ist es wichtig, dass das geschehen kann.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Deutschland ist ein Land, das sicher ist. Es gibt hier keine No-go-Areas wie in anderen Ländern; Touristen müssen nicht vor bestimmten Gegenden gewarnt werden. Auch das ist ein Grund, warum viele Menschen gerne hierherkommen: Sie wollen das erleben, sie wollen dieses schöne, sichere und gute Land bereisen. Das ist der eine Grund, warum viele Menschen nach Deutschland kommen wollen.
Der zweite Grund ist ein Ereignis, das noch gar nicht so lange zurückliegt, das wir uns aber immer wieder in Erinnerung rufen müssen: Die Spaltung der Welt in Ost und West wurde aufgehoben, der Eiserne Vorhang ist verschwunden. Das hat dazu geführt, dass Bürger aus vielen Staaten, die wegen der dortigen diktatorischen Regime festgehalten wurden und denen es unmöglich gemacht wurde, hierher zu kommen, wovon sie ein Leben lang geträumt haben, dieses Land jetzt bereisen wollen. Das ist seit 1989/90 ein Phänomen in Europa und wir sind froh und glücklich darüber, dass die Freiheit in all diesen Ländern endlich Platz gegriffen hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Endlich dürfen diese Menschen zu uns kommen. Deshalb ist es seit 1989/90 die Aufgabe aller Bundesregierungen, die gerade Verantwortung tragen, dafür zu sorgen, dass die Menschen kommen können, indem dazu geeignete und sinnvolle Verfahren entwickelt werden. Zum Beispiel haben die Minister Kinkel und Kanther zusammen mit dem ADAC ein Carnet de Touriste eingeführt, das vielen Bürgern aus einigen dieser Länder die Reise nach Deutschland möglich gemacht hat. Die Sache ist später problematisch geworden, aber das Grundanliegen war nicht falsch. Es stammt aus dem Jahre 1995 und wir müssen uns mit den Schwierigkeiten, die dabei aufgetreten sind, befassen. All die Dinge, die auch weiterhin eine Rolle spielen - der Reiseschutzpass, das Travel Voucher, der Travel Care Pass der Hanse-Merkur Reiseversicherung -, liegen auf dieser Linie und müssen im Zusammenhang betrachtet werden. Das gilt auch für die Frage des Reisebüroverfahrens, das aus der Zeit der früheren Regierung Kohl/Kanther/Kinkel stammt und das auch dem Motiv folgt, von dem ich eben berichtet habe.
Zwei schöne, wichtige Dinge sind also die Ursache für das, womit wir uns jetzt beschäftigen müssen.
Es gibt einen weiteren Gesichtspunkt und der ist nicht so schön. Wenn viele Menschen kommen, dann sind da-runter auch welche, die wir hier nicht haben wollen,

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Och!)

die die Sicherheit unseres - und nicht nur unseres - Landes bedrohen. Wir müssen alle Vorkehrungen treffen, dass ihnen das nicht gelingen kann.
Es gibt Leute, die einreisen wollen, um hier zu bleiben, oder sie wollen durchreisen, um etwa in ein anderes Land innerhalb des Schengen-Bereiches zu gelangen und dort zu arbeiten. Es gibt Menschen, die kriminelle Handlungen planen. Sicherlich müssen wir immer da-rauf achten, dass hier niemand einreist, der terroristische Bestrebungen hat.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Im Zweiminutentakt!)

Aus meiner Sicht ist das ein ganz wichtiges und zentrales Anliegen, das sowohl die Regierung mit den Ministern Kinkel und Kanther zu verfolgen hatte als auch die Minister, die jetzt Verantwortung für diesen Bereich tragen, zu verfolgen haben. Ich glaube, dass gerade unser weltweit so angesehenes und wirtschaftlich starkes Land eigentlich so etwas wie eine Gemeinsamkeit der politischen Parteien beim Vorgehen in dieser Frage benötigt; denn wie wir das regeln, hängt auch davon ab, wie wir die Wirtschaftskraft, die Attraktivität unseres Landes im weltweiten Wettbewerb, aber auch im Wettbewerb um Vorbildliches, zum Beispiel mit Blick auf unsere Demokratie, zum Tragen bringen können.
Deshalb ist es schon richtig, dass wir schauen, was wir besser und anders machen können. Aber wir müssen immer genau wissen, was wir tun. Das, was wir den Bürgern vieler Länder, auch derjenigen, über die ich gerade gesprochen habe und die erst seit kurzem Freiheit erproben und erfahren können, an Reisebeschränkungen vorschreiben, wollten wir unseren Bürgern nicht bieten lassen, wenn sie in andere Länder reisen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Weil wir Sicherheitsprobleme haben, ist es richtig, dass wir den Bürgern aus Ländern wie beispielsweise der Ukraine die Einreise schwerer machen, als dies für unsere Bürger gilt, die oft ohne große Formalitäten in andere Länder reisen können. Wir müssen uns immer wieder in Erinnerung rufen, dass wir schon jetzt diesen Menschen - zu Recht - Schwierigkeiten zumuten, und zwar solche, von denen wir nicht wollen, dass sie unseren Bürgern zugemutet werden. Auch das gehört zu dieser Betrachtung, und das muss man gemeinsam bewältigen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich in Orange erscheinen soll. Gestern haben wir an dieser Stelle über die ukrainische Demokratiebewegung gesprochen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben darüber diskutiert, wie wir ihr helfen und wie wir sie unterstützen können. Das müssen wir gemeinsam tun. Wir sehen an dieser Bewegung, welche Attraktivität Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft, Bildungsstaat und Sozialstaat - all das haben wir in Deutschland vorbildhaft entwickelt - für andere Länder besitzen und welche Sogkraft von unserer Freiheit ausgeht und auf die ganze Welt ausstrahlt.
Im Übrigen bin ich im Gegensatz zu vielen anderen der Meinung, dass die Fähigkeit zur Demokratie keine Frage der ethnischen Zugehörigkeit ist. Alle Menschen sind wie wir in der Lage, Demokratie zu entwickeln und dafür zu sorgen, dass sich Freiheit entfalten kann.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Was sollen die Menschen in Kiew, die in Orange demonstrieren, denken, wenn wir ihnen sagen: Wir unterstützen euch zwar, aber es soll keiner von euch kommen?

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wieso denn keiner?)

Das wäre eine schlechte Botschaft.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Was ist denn das für eine Botschaft? Wieso keiner? Ist das eine Debatten- oder eine Büttenrede?)

- Herr Kollege, mit einer Büttenrede haben Sie sich in diesem Parlament dauerhaft verewigt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Zuruf von der SPD: Macht die Büttenrede nicht so schlecht!)

Weil wir nicht sagen können, dass keiner von diesen Menschen kommen kann, müssen wir mit Schwierigkeiten bei der Einreise rechnen.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Keiner oder alle: so ein Quatsch!)

Auch die ehemaligen Minister Kanther und Kinkel hatten Schwierigkeiten damit. Diese Schwierigkeiten kann man aber nicht leugnen. Wir müssen vielmehr darüber diskutieren, was zu tun ist.
Meine Damen und Herren, ich habe drei Bitten.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Lieber Gott, lass die Zeit ablaufen!)

Erste Bitte: Bleiben Sie gelassen!

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist gut! Die erfüllen wir!)

Es ist wichtig, in einem Untersuchungsausschuss gelassen zu bleiben. Denn Gelassenheit ist notwendig, um sich ohne Vorurteile mit einer Sache zu befassen.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist kein Vorurteil! Das ist ein Strafurteil!)

Man sollte nicht meinen, dass man schon vorher weiß, wie es hinterher ausgehen wird. Man sollte eine gewisse Neugier und auch die Bereitschaft mitbringen, zu akzeptieren, dass es vielleicht anders kommt, als man vorher gedacht hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich sage deswegen noch einmal: Bitte etwas mehr Gelassenheit! Weil Sie so gern lateinisch sprechen, will ich Ihnen sagen: Im Ausschuss geht es darum, dass wir uns der Sache sine ira et studio widmen.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Feiner Spruch! - Rainer Funke [FDP]: Sehr gut! Er hat in der Schule aufgepasst! - Zurufe von der SPD: Wir können auch! - Wenn wir wollen!)

Zweite Bitte. Wir sollten die Bereitschaft mitbringen, dazuzulernen. Wir sollten gemeinsam herausfinden - das sind wir unserem attraktiven Land schuldig -, wie wir die Sicherheitsanforderungen möglichst effizient und sorgfältig erfüllen können. Deshalb ist es wichtig, dass man sich in einem solchen Ausschuss nicht nur Bekanntes sagt, sondern auch Schlussfolgerungen zieht, die zu einer Verbesserung in der Praxis führen. Auch das ist eine Bitte an Sie: Machen Sie dabei mit!
Dritte Bitte: Passen Sie auf!

(Zuruf von der FDP: Immer!)

Ein Untersuchungsausschuss ist ein wenig wie das Fischen in einem Teich. Sie werfen eine Angel aus und hoffen, dass ein Vorwurf gegen die Regierung anbeißt.

(Zuruf von der SPD: Ein alter Stiefel!)

Aber wie gesagt: Passen Sie dabei auf! Während Sie davon träumen, einen großen Fisch am Haken zu haben,

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Von Fisch bis Fischer ist es nicht weit! - Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

landen plötzlich Kinkel und Kanther auf dem Teller.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)