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26.03.2007

Rede von Olaf Scholz beim Kolloquium der Walter-Raymond-Stiftung

Meine Damen und Herren,

die erste Frage, die wir, wenn wir über Politik, Globalisierung und die Herausforderungen unserer Zeit diskutieren, beantworten sollten, lautet: Was ist eigentlich die Aufgabe der Politik? Gelegentlich ist es die Aufgabe der Politik, Schlimmstes zu verhüten. Das sind aber Aufgaben, von denen wir hoffen, dass sie sich uns nicht oft stellen. Meistens geht es darum, dafür zu sorgen, dass die Zukunft besser wird, als wenn es den politischen Einfluss nicht gegeben hätte. Ich sage das deshalb am Anfang, weil wir eine öffentliche Debatte über Politik und das, was Politik bewirken kann, haben, die genau andersrum verläuft. Letztendlich leben viele Politiker, Journalisten und Wissenschaftler davon, dass sie von allen möglichen Unglücken berichten. Aber die Vorstellung, dass das, was wir bewegen wollen, eine Verbesserung des Zusammenlebens ist, die wird sehr selten vermittelt.  Das halte ich  für eine ernsthafte Beeinträchtigung demokratischer Handlungsmöglichkeiten. Denn die Vorstellung, dass es nicht erst irgendwann in ferner Zeit oder in einer anderen Welt besser wird, sondern dass jetzt, hier und heute Verbesserungen pragmatisch möglich sind, ist ein Optimismus, den eine Demokratie braucht.   Zweite Bemerkung: Wenn wir über Globalisierung diskutieren, werden zwei Standpunkte ganz prominent vertreten. Der eine Standpunkt ist der der Ohnmachtsanhänger, und der andere Standpunkt ist der der Allmachtsanhänger. Wenn ich das so beschreibe,  geschieht das, das gebe ich gerne zu, weil ich weder dem einen, noch dem anderen Standpunkt Recht geben möchte. Aber ich will sie beschreiben, weil sie in der öffentlichen Debatte sehr wirkungsmächtig sind.   Die Ohnmachtsanhänger sind diejenigen, die uns letztendlich sagen: Die Globalisierung ist da, das kann man nicht bestreiten und sie wird dazu führen, dass wir uns alle weltweit angleichen müssen, dass es keine Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern und Regionen geben kann. Alles läuft darauf hinaus, dass wir am Ende eine Welt mit einer gemeinsamen Wirtschaftsverfassung und Sozialordnung haben. Wer das nicht einsehen will, der irrt. Man kann nichts dagegen tun. Unter den Befürwortern dieser These gibt es diejenigen, die das befürworten und diejenigen, die das ganz schlimm finden.   Ich halte das für eine absurde, nicht akzeptable Vorstellung. Die Wirtschaftsverfassung muss sich nach keinem Vorbild richten, ob das nun die Art und Weise ist, wie Marktwirtschaft in den USA betrieben wird, oder die neuen Formen von Kapitalismus, die sich in Russland und China heute entwickelt haben und sich völlig von den gemäßigten Formen, die wir hier in Europa und Deutschland kennen, unterscheiden.   Die Gegenthese wird auch vertreten, das sind die Allmachtsanhänger. Politisch kommen die im politischen Spektrum unseres Landes im Wesentlichen bei der PDS, die sich jetzt schon wieder einen neuen Namen geben will, vor. Aber es gibt sie fast überall. Die These lautet, dass man nur wollen müsste, dann könnte man ja. Dahinter steckt eine falsche Vorstellung von den Handlungsmöglichkeiten der Politik, die den Eindruck erweckt, wir könnten alles mögliche so bewirken, wie wir es uns am besten vorstellen. Gäbe es eine größere Zahl von arbeitslosen Chemiefacharbeitern in einer Region, dann könne der Staat dort einfach eine Chemiefabrik bauen. Das ist eine Vorstellung, die man nicht ernsthaft verfolgen kann, die aber in der politischen Debatte vorkommt und auf die ganz links und ganz rechts gesetzt wird. Die ähnlichen Ansichten zu den Chancen von Interventionen bei ganz rechten und ganz linken Positionen ist aus meiner Sicht übrigens frappierend.   Aus meiner Sicht ist aber all das, was hier als Allmachtsphantasie darüber mitschwingt, was man durch politische Intervention bewirken könne, genauso falsch, wie die Ohnmachtstheorie, mit der ich mich vorher auseinandergesetzt habe.  Und deshalb sollte man beide Vorstellungen zurückweisen, wenn wir erreichen wollen, dass die Handlungsmöglichkeiten demokratischer Politik in einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft richtig beschrieben werden über die wir miteinander streiten und ringen.   Ich will eine Fußnote hinzufügen. Als Politiker, als jemand, der in der Öffentlichkeit diskutiert, sollte man möglichst nie den Eindruck erwecken, dass man etwas zu bewegen hätte in Angelegenheiten, wo man wirklich nichts bewegen kann. Das bedeutet auch, dass die Politik und die Politiker und Politikerinnen aller Parteien abrüsten müssen in der Sprache, die sie wählen, wenn sie über ihre Handlungsmöglichkeiten sprechen. Wir können im Deutschen Bundestag darüber streiten, wie man die Bedingungen für wirtschaftliches Wachstum verbessern kann und man kann darüber streiten, ob der Kündigungsschutz stört oder nicht stört, ob er nutzt oder hilft, aber wir können nicht per Gesetz bewirken, dass die Arbeitslosigkeit innerhalb von zwei Monaten verschwunden ist. Und wenn das so ist, dann sollten wir über das sprechen, was wir wirklich bewegen können.   Ich glaube, dass man,wenn man sich realistisch mit den Menschen über die eigenen Handlungsmöglichkeiten unterhält, das Vertrauen in demokratische Politik stärkt. Die Demokratie lebt davon, dass die, die sie betreiben über das reden, was sie können. Auch in einer marktwirtschaftlichen Demokratie bleiben genügend Unterschiede zwischen und innerhalb der Parteien.   Dritte Bemerkung: Ich glaube, dass der Sozialstaat eine gute Zukunft hat. Ich bin sogar davon überzeugt, dass er nicht ein Relikt aus einem letzten Jahrhundert ist, wie uns der eine oder andere erzählt, sondern dass moderne marktwirtschaftliche Demokratien besonders erfolgreich sind, wenn sie eine sozialstaatliche Basis haben. Ich habe schon darauf hingewiesen: Die Globalisierung ändert aus meiner Sicht nichts daran. Wir müssen auf der Welt am Ende nicht alle gleich werden, sondern wir müssen dafür sorgen, dass wir zueinander passen. Um es in der Sprache der modernen Computerwelt zu sagen, es geht um Kompatibilität und nicht darum, dass man vollständig identisch wird. Wir müssen nicht aus unserem eigenen nationalen oder europäischen Traditionen aussteigen, sondern wir können da ansetzen, wo wir heute stehen und versuchen uns für die Zukunft weiter zu entwickeln. Aber kompatibel zur weltwirtschaftlichen Bedingung zu agieren, bedeutet eben nicht, dass man alles ganz anders machen müsste. Und es bedeutet eben auch nicht, dass wir keine Chance auf  eine eigenständige Entwicklung haben, sondern es bedeutet, dass wir klug vorgehen müssen, dass wir uns genau überlegen müssen, was wir machen wollen.   Ich will deshalb etwas zu den sozialstaatlichen Funktionen unseres Landes sagen  und dabei drei Schichten der sozialstaatlichen Sicherung unterscheiden. Die erste Schicht sozialstaatlicher Absicherung, besteht in der klassischen, auf die eine oder andere Weise in fast allen Sozialstaaten existierenden, öffentlich gewährleisteten und aus Steuermitteln finanzierten Basisabsicherung. Das Niveau ist in den Staaten unterschiedlich, aber diese Absicherung gibt es fast überall, und eben auch bei uns. Das Niveau, das wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, lässt sich beschreiben: Es beträgt 345 Euro für einen Alleinstehenden plus die Warmmiete, also ein Betrag um die 620/650 Euro. Das ist etwas, was einem garantiert wird, wenn man Arbeit sucht, ab dem 15. Lebensjahr bis zum Renteneintritt und als Rentner über die Grundsicherung auch. Das ist etwas, was einem zusteht, wenn man mit Behinderung lebt und auf Unterstützung angewiesen ist. Unter dieses Niveau kann niemand herunterfallen. Das ist die Basisabsicherung in der Bundesrepublik Deutschland.  Die Basisabsicherung garantiert keinen hohen Lebensstandard und doch im internationalen Vergleich ein relativ hohes Absicherungsniveau. Wir haben dort über viele Jahrzehnte und über viel Gesetzgebung etwas zustande gebracht, auf das sich die Menschen verlassen können. Die jüngsten Reformen haben zum Beispiel auch viele Menschen, die sich selbständig machen wollen oder nicht erfolgreich selbständig machen, mit neuer Sicherheit in dieser Frage versehen. Ich habe sogar die Hoffnung, dass daraus möglicherweise eine neue Form von Unternehmermut entsteht und Menschen sich darauf einlassen, etwas zu riskieren, um von anderen für aussichtslos gehaltene Projekte anzufangen und damit vielleicht erfolgreich zu sein.   Die zweite Schicht sozialstaatlicher Absicherung, die wir in unserem Lande haben, wird von dem spezifisch deutschen Weg, soziale Sicherheit über Sozialversicherung zu gewährleisten, geprägt. Krankenversicherung, Rentenversicherung, Pflegeversicherung und Arbeitslosenversicherung gewährleisten für die meisten Menschen eine Sicherheit oberhalb des steuerfinanzierten Basisabsicherungsniveaus. Trotz aller Anpassungsnotwendigkeiten, die bestehen, ist unverkennbar, dass gerade dieser spezifisch deutsche Weg ursächlich dafür ist, dass das Niveau der sozialen Absicherung in Deutschland höher ist als in den meisten anderen Staaten. Entgegen der modernen Klage über die Pfadabhängigkeit dieses deutschen Weges, halte ich  einen Pfadwechsel, weg von einer über Sozialversicherungen gewährleisteten sozialen Sicherheit hin zu einem vollständig steuerfinanzierten Sozialstaat, für nicht wünschenswert. Die aus Beiträgen finanzierten Leistungen der deutschen Sozialversicherung übersteigen den Umfang des Bundeshaushaltes um ein Vielfaches. Wollte man das heutige Sicherungsniveau aus Steuermitteln finanzieren, müssten wir die beim Bundesstaat ankommenden Steuern um ein Vielfaches steigern. Es ist politisch nicht wahrscheinlich, dass das gelingt. Aber genauso ist es auch nicht wahrscheinlich, dass man die Zustimmung zu der Alternative bekommt, nämlich einem steuerfinanzierten Niveau, das aber eine dramatisch geringere Absicherung gewährleistet als heute über Beiträge.   Steuerfinanziert sind ganz unterschiedliche Sozialstaaten, der britische genauso wie die verschiedenen skandinavischen Sozialstaaten. Das Absicherungsniveau, die Belastung aus Steuern und Sozialbeträgen der Unternehmen und der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist in diesen Ländern völlig unterschiedlich. Insofern ist es zwar eine verführerische, aber völlig verfehlte Diskussion, zu meinen, dass aus der Beantwortung dieser Frage wirklich etwas langfristig Erhebliches für die Zukunft des einen oder anderen Landes folgt. Man darf und muss natürlich über die Erhöhung steuerlicher Mittel in der Sozialversicherung diskutieren, aber man darf eben angesichts der riesigen Mengen, um die es geht, sich nicht eine vollständige Finanzierung vorstellen. Im Übrigen, das will ich gern an dieser Stelle sagen, machen sich  manche sich etwas vor. Manchmal habe ich das Gefühl, die Kosten verschwinden bei manchen Modellen irgendwo im Nirvana und ein Einkommen im Alter oder Gesundheit wäre fast umsonst zu bekommen, nur weil man das nicht mehr über Sozialversicherung bezahlt. Das ist aber ein ganz schwerer Rechenfehler.   Der Verzicht auf die gesetzliche Rentenversicherung bedeutet ja nicht, dass die Menschen weniger Geld für ihre Altersvorsorge aufbringen, sondern die allermeisten werden, wie in den Ländern, in denen es keine vorgeschriebene Altersvorsorge gibt, auch Beiträge für ihre Altersvorsorge leisten. Wenn sie klug sind, nicht weniger als was ihnen heute gesetzlich vorgeschrieben wird. Es würde also nur eintreten, dass eine ganz kleine Zahl von Menschen, die es vergessen, an ihr Alter zu denken, das nicht mehr tun, mit all den Folgen, die es für den Sozialstaat später hätte, und den Finanzierungsnotwendigkeiten, die sich dann für uns alle ergeben.   Man kann sich auch nicht vorstellen, dass die meisten Menschen darauf verzichteten, eine Krankenversicherung zu haben. Was wir mit unserem gesetzlichen System eigentlich heute vorschreiben, ist, dass man sich versichern muss. Es macht keinen besonderen Sinn, wenn wir hier über einen Pfadwechsel diskutieren.   Ich will ein weiteres Argument anführen: Die Sozialversicherungstradition reicht lange zurück und ist bis heute das Gemeinschaftsprodukt von Konservativen und Sozialdemokraten. Sie stammt aus dem vorletzten Jahrhundert und kam zustande, weil Bismarck die Forderung von Sozialdemokraten und Gewerkschaften aufgriff und im Übrigen unsereins ins Gefängnis steckte, in der Annahme, mit dieser Doppelstrategie würde man uns los. Letzteres ist nicht gelungen. Was geblieben ist, ist die Keimzelle des deutschen Sozialstaates, an der nicht immer kooperativ, manchmal sehr konfliktiv, aber letztlich Konservative und Sozialdemokraten über die Zeit hinweg gemeinsam gearbeitet haben. Und über die vielen Jahrzehnte ist deshalb eine Sozialstaatstradition entstanden, die zur Identität der Deutschen dazu zählt. Ich glaube deshalb, dass manche sich gar nicht ausmalen, was sie anrichten, wenn sie die Frage, ob wir auf diesem Weg weitergehen sollten, zum Thema von Wahlkämpfen und Auseinandersetzungen zwischen den beiden Volksparteien machen. Denn für den normalen Menschen, der keine anderen Sicherungsmöglichkeiten hat, sind es lebenslange Entscheidungen, die er getroffen hat in Bezug auf Rentenversicherung und Krankenversicherung. Und es ist eine fürchterliche Vorstellung, dass alle vier Jahre die Entscheidungen zur Disposition in Wahlkämpfen stehen.   Deshalb auch mein Rat an die beiden Koalitionsparteien und die Menschen, die sie beraten: Wir sollten uns nicht gerade über die Architektur unseres Sozialversicherungswesens zerstreiten. Die Bevölkerung erwartet von uns das Gegenteil. Das ändert im Übrigen nichts daran, dass wir natürlich dafür sorgen müssen, dass die Rechnungen aufgehen, dass Einnahmen und Ausgaben zusammenpassen. Das sind die Reformen der letzten Jahre in Renten- und Krankenversicherung gewesen. Bei der Rentenversicherung haben wir viel erreicht, bei der Krankenversicherung haben wir vieles voran gebracht, noch nicht alles, wie jeder weiß. In den letzten Jahren hat es die deutsche Politik trotz aller Unübersichtlichkeit - und ich meine da nicht die letzten acht Jahre, sondern die letzten fünfzehn bis zwanzig Jahre - trotz allem hin und her und trotz allem Zaudern am Ende doch geschafft, die ihr gestellte Aufgabe zu lösen. dass auch in Zukunft Einnahmen und Ausgaben der für den deutschen Sozialstaat so bedeutenden Sozialversicherung ausgeglichen bleiben, ohne dass die dafür aufzubringenden Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern eine Größenordnung erreichen, die von den Zahlenden nicht mehr akzeptiert werden und damit die Legitimation des ganzen Systems sozialer Sicherheit in Frage stellen.   Das, meine Damen und Herren, ist nicht wenig. Wer andere europäische Sozialstaaten anschaut, stellt schnell fest, dass in vielen dieser Länder keines der dort ähnlichen Probleme bisher auch nur annähernd einer Lösung entgegengebracht wurde. Trotzdem werden die Reformen des Systems der Sozialversicherungen, die in den letzten Jahren auf den Weg gebracht wurden, auch überschätzt. Da gibt es ja den Hang zur ideologischen Überlegung, zur Entwicklung von grundsätzlichen Konzepten für manchmal nur sehr pragmatische Korrekturen. Aber es war, was wir den letzten Jahren gemacht haben, im Kern eine pragmatische Korrektur, wo wir die Ausgaben gesenkt haben, um mit den Beiträgen noch zu Recht zu kommen. Das ist letztendlich systemimmanent, hat aber natürlich unglaublich viele Menschen aufgeregt, und sie teilweise auch sehr besorgt sein lassen, und war nichts weiter als eine Anpassungsmaßnahme, wie in vielen Unternehmen auch, wo man Einnahmen und Ausgaben auf irgendeine Weise vernünftig zueinander bringt. Das allerdings, das kann man mit einem gewissen Stolz sagen, haben wir in diesem Land zustande gebracht. Ich bitte Sie, sich einfach mal die Rentenproblematiken unserer Nachbarländer anzuschauen und die Frage zu erörtern, wann man dort in Rente gehen darf, die Frage, was dort zu leisten ist. Dann wissen Sie, dass die die Lösung der Probleme noch vor sich haben, die die deutsche Politik, mit teilweise hohen Kosten für die tragenden Parteien, nie endgültig, aber doch sehr weitgehend, gelöst hat.   Ich will, nachdem ich über die steuerfinanzierte Sozialabsicherung und über den Sozialversicherungsstaat gesprochen habe, über die Aufgaben der Zukunft sprechen. Und komme damit zur dritten Schicht sozialstaatlicher Absicherung. Wir Sozialdemokraten diskutieren das unter dem Stichwort vorsorgender Sozialstaat. Wie können wir erreichen, dass die Menschen nicht in die Lage geraten, auf öffentliche Unterstützung angewiesen zu sein und ihr Schicksal besser gestalten können? Und da haben wir vieles gelernt.  Ich will das an vier Themen deutlich machen, die für die Politik in den nächsten Jahren von großer Bedeutung sind - immer mit der Zielsetzung, zu verhindern, dass die Menschen überhaupt in Not und in Schwierigkeiten geraten. Wie gestalten wir die Welt so, dass sie am besten zurecht kommen mit ihren eigenen Möglichkeiten, mit ihren eigenen Anstrengungen und eigenen Fähigkeiten.   Thema Nummer 1 Arbeitslosigkeit. Ich bin davon überzeugt, dass die Möglichkeiten der Arbeitsvermittlung in diesem Lande noch nicht ausgeschöpft sind. Wir sind noch weit weg davon, wenn auch immerhin am Anfang des Weges, die Arbeitsvermittlung zur leistungsfähigsten öffentlichen Institution des Landes zu machen. Das müsste unser Ziel sein. Und wenn man das Ziel beschreibt, dann fällt jedem hier im Raum ein, wie weit wir noch davon weg sind, mir auch. Stundenlang könnte ich darüber sprechen, aber wir müssen verstehen, dass wir über Jahrzehnte, Arbeitgeber wie Gewerkschaften, gemeinsam hingenommen haben, dass sich an einem schlechten Zustand nichts ändert. Dass sich eine Institution entwickelt hat, wie die frühere Bundesanstalt für Arbeit, die 90.000 Menschen beschäftigt und gerade mal zehn Prozent davon zur Vermittlung einsetzt, und die über viele Fragen keine Auskunft geben kann.   Ich hatte mir mal früher vorgestellt, dass, wenn man als 35-jähriger Facharbeiter, der gerade gekündigt wurde, mit einer bestimmten Qualifikation, zur Arbeitsvermittling kommt und fragt, was kann ich werden, dass dann dort jemand mit einem Expertensystem sitzt, der einem sagt, dass man  in der Region, in der man lebt, folgendes Einkommen mit folgenden Tätigkeiten erzielen kann. Aber das weiß überhaupt niemand. Niemand hat Ahnung davon, was man jemandem vernünftigerweise raten soll. Das ist eine Aufgaben, an denen wir ganz hart arbeiten müssen, weil ich der Überzeugung bin, dass die Chancen der Arbeitsvermittlung unterschätzt werden.   Von links bis rechts in diesem Lande wird eine volkswirtschaftlich völlig unhaltbare Theorie vertreten, nämlich dass es sich bei dem Arbeitsmarkt um ein völlig feststehendes Stück Kuchen handelt, das man unterschiedlich aufteilen kann. Aber die These, dass es sich beim Arbeitsmarkt um einen Hefeteig handelt, der auch größer werden kann, dass die Aufnahme von Beschäftigung dazu führt, dass sich auch insgesamt die wirtschaftliche Dynamik verändert, dass, wenn neue Menschen in den Arbeitsmarkt hineinkommen, die Arbeitslosigkeit typischerweise sinkt und nicht steigt, empfindet niemand als richtig, obwohl sie sich belegen lässt. Eine Verbesserung ist  ganz, ganz notwendig. Für die Unternehmen, damit sie sich gerne an die Institutionen der Arbeitsvermittlung wenden, weil sie wissen, sie kriegen gute Vorschläge und nicht dreihundert Leute, von denen sich nicht alle ernsthaft bewerben. Und für die Arbeitnehmer, die dann wissen, dass sie gute Beratung und wirkliche Hilfe kriegen. Das muss noch erreicht werden. Es ist besser geworden, aber weit weg von gut. Ich will ihnen auch sagen, dass wir so etwas wie aktive Arbeitsvermittlung immer brauchen werden, weil die Alternative dazu eine ist, die ich politisch nicht will, und die auch keine Mehrheit in diesem Lande bekäme - nämlich das Absicherungsniveau im Falle der Arbeitslosigkeit so gering zu machen, dass die Menschen schon alles mögliche akzeptieren. Wenn das nicht so ist, und das werden wir nicht tun, dann brauchen wir Möglichkeiten, um Menschen in den Arbeitsmarkt wieder hineinzuführen. Auch solche, für die kein Arbeitgeber zur Verfügung steht, also jemanden zu beschäftigen, bei dem man nicht ganz sicher ist, ob er sich vollständig für den Arbeitsplatz, den man ihm anbietet, interessiert. Und deshalb gibt es die Notwendigkeit, über aktive Arbeitsmarktpolitik Menschen dem Arbeitsmarkt zuzuführen. Und bei manchem muss es auch darum gehen, dass man sie vermittelbar macht, in dem man ihnen Qualifikationen und Mentalitäten neu vermittelt, die dafür erforderlich sind.   Das zweite Thema ist Bildung. Dazu ist soviel gesagt, dass ich hier nicht viel erzählen muss. Aber ich möchte doch darauf hinweisen, dass es ein paar Daten gibt, die zu allgemeinem Bewusstsein gelangen sollten und die bei uns allen politische Debatten auslösen müssen.   Zehn Prozent der Schulabgänger verlassen die Schule ohne Schulabschluss. In den großen Städten, wie der, aus der ich komme, sind es zwölf Prozent. Was soll aus denen werden bei einem Arbeitsmarkt, bei dem schon die Chancen von Menschen mit einem Hauptschulabschluss sehr gering sind? Es gibt jetzt neueste Untersuchungen, richtig statistisch erfasst wird es nicht, durch die man sich die Dimension des Problems klar machen kann. Unmittelbar im Anschluss oder zeitnah an den Hauptschulabschluss kriegen etwa neun Prozent der Hauptschulabgänger eine ungeförderte Ausbildung. Diejeinigen, die die Hauptschule ohne Abschluss verlassen, sind da nicht mitgezählt. Wenn wir alle denken, der typische Auszubildende ist ein Hauptschüler, ist er das gar nicht. Immerhin über zehn Prozent ist heute die Zahlaus Hamburg. Bevor Herr Otto sich verdienstvoll um ein Hauptschulabgängervermittlungsprojekt gekümmert hat, ist es eine Zahl zwischen fünf und sechs Prozent gewesen. An dieser Realität kann man nicht wirklich vorbei diskutieren.  Man muss sie zur Kenntnis nehmen. Im Übrigen empfehle ich jedem, der sich eine gute Zukunft für sich selber wünscht, sich auszurechnen, was das eigentlich bedeutet, wenn das zehn, zwanzig, dreißig Jahre nacheinander so gegangen ist und alle diese Menschen ja weiterhin da sind.   Drittes Stichwort: Menschen mit Behinderung - auch eine Aufgabe, die etwas mit Vorsorge, Teilhabe, Integrationsmöglichkeiten zu tun hat, und viertens: Migration/Integration. Auch da geht es im Wesentlichen darum, Qualifikation zu vermitteln und natürlich auch die deutsche Sprache. Leider ist es in den letzten Jahren oft so gewesen, dass der Streit darüber, ob die Migranten deutsch können sollen, unter der Überschrift geführt worden ist, wie hart man zu ihnen ist. Aber tatsächlich geht es darum, dass sie deutsch können. Das sollten wir real bewirken, weil wir auch dort sonst Probleme bekommen, die man sich in Zahlen ausrechnen kann und die sich niemand ausmalen möchte. Mein Rat ist deshalb, sich auch um dieses Problem zu kümmern und zu sagen: Da ist eine gemeinsame Anstrengung nötig.   Ich komme zurück, zu dem mir gestellten Thema. Auch in der globalisierten Welt gehört der deutsche Sozialstaat zur marktwirtschaftlichen Verfassung unseres Landes dazu.  Wir haben gut daran getan, ihn zukunftsfest zu machen, indem wir, um es sehr hart zu sagen, Leistung reduziert haben, damit die Beitragsbelastung noch erträglich bleibt. Das ist schwer in der Politik, weil all die Leute, denen man etwas aus ihrer Sicht weg nimmt, wählen einen ja vielleicht nicht wieder. Aber tatsächlich ist es eben der deutschen Politik - und zwar den beiden großen Volksparteien in unterschiedlichen Konstellationen - gelungen, das am Ende zustande zu kriegen. Ich kann uns nur raten, dass wir uns nicht in eine Debatte begeben, wo die Menschen den Eindruck haben, das ist eine Rutsche und es gibt nicht irgendwann mal eine erfolgreich durchgeführte Operation. Da können wir uns über den Zeitpunkt streiten, aber jeder, der den Eindruck erweckt, er wird nie zu einem erfolgreichen Ergebnis führen, kann kein Vertrauen gewinnen. Nun bin ich gern bereit, mit ihnen zu diskutieren, ob wir mit der Rentenreform, den zwei Absicherungen über gesetzliche und private Altersvorsorge das Notwendige schon getan haben. Aber wir müssen eine Verständigung darüber haben, dass es diesen Punkt geben kann, und er muss erkennbar und erreichbar sein, sonst werden wir niemanden für uns gewinnen können.   Das gleiche gilt für die anderen Bereiche der Sozialreform. Wir haben, um den deutschen Arbeitsmarkt flexibler zu machen, eine riesige Arbeitsvermittlungsreform zustande gebracht, deren Bedeutung ich eben noch einmal betont habe. Zu deren Grundlagen gehört eine Entscheidung, die ein Traditionsbruch in diesem Lande ist, den die meisten sich nicht ausmalen, den ich Ihnen aber doch nicht ersparen will: Deutschland ist das Land des Berufs. In keinem anderen Land spielt der Beruf eine so große Rolle für das Selbstbild der Menschen, für ihr Verständnis von dem, wie man selber ist. Dies ist eine Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht und die auch etwas zu tun hat mit dem Erfolg unseres Landes in wirtschaftlichen Zusammenhängen. Mit der letzten Arbeitsvermittlungsreform haben wir den Berufsschutz abgeschafft. Wer ein Jahr arbeitslos ist, muss jede Arbeit akzeptieren. Das steht im Gesetz. Das ist wahrscheinlich der größte Traditionsbruch der letzten dreißig Jahre gewesen, und er bricht mit einer Tradition, die viel älter ist, als das letzte Jahrhundert. Auch eine Reform, bei der man dann irgendwann mal sagen muss, dass wir darauf aufbauen, dass das auch funktioniert.  

Die zentrale Frage ist: Wie verhindern wir Armutsprozesse? Wie stellen wir sicher, dass alle unsere 80 Millionen Menschen eine Chance haben, wenn sie sich anstrengen? Darum muss es uns gehen und deshalb geht es dem vorsorgenden Sozialstaat um: Arbeitslosigkeit, Bildung, Teilhabe und Integration. 

Schönen Dank!