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06.07.2015

Rede zur Sommeruniversität der Friedrich Ebert Stiftung: Deutschland, Europa und offene Gesellschaft

Rede zur Sommeruniversität der Friedrich Ebert Stiftung: Deutschland, Europa und offene Gesellschaft

 

Meine Damen und Herren,

 

Deutschland ist heute nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und nach der Osterweiterung der Europäischen Union  in einer unvergleichlich günstigeren Lage als viele Jahrhunderte zuvor. Man kann die historische Situation gut verstehen, wenn man in jüngst veröffentlichten Büchern nachliest. Zum  Beispiel bei Brendan Simms, der eine deutsche Geschichte Europas von 1453 bis heute skizziert. Oder bei Herfried Münkler, der über die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa nachdenkt. Und natürlich im weitesten Sinne immer auch in Heinrich August Winklers Geschichte des Westens.

 

Auch für unsere europäischen Nachbarn ist die Lage günstiger als durch diese vielen Jahrhunderte. Das wieder vereinte Deutschland hat zwar dank seiner geografischen Lage und Ausdehnung, der Größe seiner Bevölkerung und seiner wirtschaftlichen Kraft unverändert ein großes Gewicht in Europa. Aber erstmals seit langer Zeit wurde dieses Gewicht nach 1990 und seitdem kein Sicherheitsproblem, keine Bedrohung für seine Nachbarn. Und zwar eben wegen der Europäischen Union und natürlich auch wegen des Euro. Vermutlich wäre ohne unsere sorgsam konzipierte Einbettung in das zusammen wachsende Europa, ohne das entschiedene Ja aller, die am Tisch saßen, zum Miteinander in der Europäischen Union die Deutsche Einheit auf erheblichen Widerstand eben dieser Nachbarn gestoßen. Einige hatten ja recht grundsätzliche Vorbehalte. Gerade in der aktuellen Debatte, in der oft der Euro ein wenig geschichtsvergessen als ein Instrument der deutschen Politik diskutiert wird, scheint mir dieser Hinweis wichtig. 

 

Unverkennbar ist die Europäische Union gegenwärtig in einer komplizierten Situation. Die Schuldenkrise der südeuropäischen Länder und nicht nur dieser ist ein Symptom für eine durchaus krisenhafte Lage. Die Schwierigkeiten Griechenlands, genauer: der griechischen Bevölkerung, der griechischen Wirtschaft bewegen uns alle. Der Europa-Skepsis in Großbritannien macht uns Sorgen. Rechte populistische und europaskeptische Parteien haben Wahlerfolge.

 

Die Europäische Union muss weiter zusammenwachsen 

 

Wir sollten uns weiterhin offensiv zum EU-Integrationsprozess bekennen, wie es die bundespolitisch relevanten Mandatsträger und Parteien ja durchweg tun, ebenso wie in den Medien und der öffentlichen Meinung Europa als Weg und Ziel hohen Konsens genießt. Für die Politik in Deutschland und in allen Mitgliedsstaaten heißt das im Übrigen auch, dass wir aufhören müssen, zuerst darüber nachzudenken, was etwas für uns in Deutschland bedeutet, bevor wir darüber nachdenken, was es für Europa bedeutet. Es gibt keine gute Politik, keine gute europäische Politik, die ihre Ausgangsgedanken in der Politik des einzelnen Nationalstaates findet.

 

Alle Fragen, die in der Europäischen Union gegenwärtig diskutiert werden, lassen sich nur aus der Perspektive Europas richtig beantworten. Natürlich dürfen wir prüfen: Welche Konsequenzen hat das für uns? Aber es gibt keine Lösung aus der Perspektive eines einzelnen Landes. Es wird immer nur eine Lösung geben, die aus der Perspektive von allen richtig wäre.

 

Ich bin, was diese Frage betrifft, nicht pessimistisch. Es ist gegenwärtig viel von Krise die Rede. Aber bisher und überwiegend will keiner raus aus der Union. Der Streit mit einigen südeuropäischen Ländern hat zwar zu viel schlechter Laune beigetragen, das gilt auch für den Streit mit Griechenland. Aber es gibt bisher niemanden von Bedeutung, der aus der EU austreten will. Es ist etwas ganz Normales, dass es in einer Familie Streit gibt. Und dass die Griechen von uns etwas fordern, quasi innerhalb der Familie, muss ja nicht von allen gut gefunden werden, ist aber völlig in Ordnung. Deshalb glaube ich, dass das Besondere der gegenwärtigen Situation darin besteht, dass sich zwar alle streiten, weil es etwas zum Streiten gibt, aber dass es deswegen nicht zu Trennungen kommt. Wenn Politikerinnen und Politiker ihre Führungsaufgabe vergessen, dann kann es dazu kommen. Aber das wird hoffentlich nicht der Fall sein.

 

Und zur Klarheit will ich es nochmal sagen: Ich bin unverdrossen immer noch dafür, dass wir etwas dafür tun, damit Griechenland in der EU und damit im Euro bleibt. Hoffen wir, dass Griechenland sich helfen lassen will. Gleiches gilt für Großbritannien, das wir nicht beleidigt aufgeben dürfen und das für mich unverändert mehr ist als die Summe seiner Teile, so schön die auch für sich schon sind. Wir müssen darum ringen, dass Großbritannien in der Europäischen Union bleibt.

 

Auch Herfried Münkler betont, dass es für den Zusammenhalt der Union unerlässlich sei, dass die deutsche Regierung eine europafreundliche Haltung einnimmt. Und auch die Wahlbevölkerung müsse sehr viel stärker europafreundlich eingestellt und von den Vorteilen des Europaprojekts überzeugt sein, als die der, wie er sie nennt, peripheren Mitgliedstaaten. 

 

Er äußert sich dann zu einer notwendigen Populismusresistenz, die für die deutsche Politik in Europa unabdingbar sei. Wachsender Populismus sei nämlich die, oder eine Achillesferse der deutschen Politik in Europa. Darauf, und was dagegen zu tun sei, will ich hier nicht eingehen; richtig ist aber, dass, und ich zitiere: es erforderlich ist, dass sich ein Staat (oder auch eine Gruppe von Mitgliedstaaten) als quasi-institutioneller Ausgleicher und Vermittler versteht, der diese Rolle nicht nur annimmt, sondern sie auch nach außen und innen, gegenüber den anderen Mitgliedern wie gegenüber der eigenen Bevölkerung offen als solche kommuniziert. 

 

Zitatende. Die deutsche Politik und die deutsche Öffentlichkeit müssten diese Herausforderungen kennen, begreifen und annehmen. In der Tat kann sich Deutschland in der Position, die es innerhalb der Europäischen Union nun einmal einnimmt, aus eigentlich keinem Problem mehr heraushalten und bestimmte Herausforderungen schlichtweg anderen Mitgliedstaaten zur Bearbeitung überlassen. 

 

Ein Beispiel: Angesichts der schauerlichen Arbeitslosigkeit besonders unter jungen Leuten in Teilen Europas muss Deutschland helfen, dieses Problem grenzübergreifend zu attackieren und nach Lösungen zu suchen; ja, es muss dergleichen initiieren. Da fehlt bisher Leadership.

 

Offene Gesellschaft und Freizügigkeit

 

Soviel, meine Damen und Herren, zu Deutschland und seiner Verantwortung für Europa. Dieses Europa ist mehr als eine geographische Zuordnung. Die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union hält noch etwas anderes zusammen: im Sinne Poppers eine offene Gesellschaft. 

 

Man könnte einwenden, die EU sei eher ein Kennzeichen für die Öffnung der Gesellschaften, insofern sie aus der Aufhebung von Grenzen entstanden ist. Aber das ist nicht die Pointe, denn Popper kennzeichnet die offene Gesellschaft aus der Perspektive der Bürger: Es geht um ihre Freiheit, die Grundrechte, rechtsförmige Verfahren und einen politischen Raum, in dem prinzipiell klar ist, dass alle Institutionen das Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse sind. 

 

Für die EU heißt das: 507,4 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger sind mit einem soliden Grundrechtekatalog (EU Grundrechtecharta und Europäische Menschenrechtskonvention) ausgestattet, genießen vollständige Freizügigkeit und gestalten mittels direkter Wahlen und über nationale Parlamente die Institutionen der Europäischen Union.

 

Die Freizügigkeit die Möglichkeit im Nachbarland arbeiten, wohnen, studieren und aus welchem Grund auch immer sich aufhalten zu können, ist eines der großartigsten Rechte europäischer Bürgerinnen und Bürger. Ihre Bedeutung kann nicht überschätzt werden. Und darum will ich auf die Freizügigkeit später noch einmal zurückkommen. 

 

Die offene Gesellschaft der EU zeigt sich zweitens im Schutz der Individualität. Nicht nur der Grundrechtekatalog sondern auch sehr dezidierte Richtlinien schützen europäische Bürgerinnen und Bürger vor Diskriminierung. Deutschland musste das lernen und gerade auch die neuen Beitrittsländer werden davon profitieren. 

 

Offen im Sinne Poppers zeigt sich die EU drittens durch ihre Institutionen. Ob Kommission oder Parlament, europäischer Gerichtshof oder auch die finanzpolitischen Institutionen, jede hoheitliche Größe hat ihre eigene Geschichte der Kompetenzentwicklung und ist immer eine Geschichte innerhalb der EU. Das interessanteste an dieser Erkenntnis ist, dass genau das sehr häufig Gegenstand der Kritik ist. Die EU wird als artifiziell kritisiert, häufig sind europäische Regelungen allein deshalb ein Gegenstand von Misstrauen, weil sie nicht von nationalen Organen oder regionalen beziehungsweise religiösen Traditionen entstammen. 

 

Zu den Best of Popper gehört sein Credo der offenen Zukunft. Das ist, bezogen auf die EU, eine Beschreibung, die vielleicht gar nicht so angenehm ist, weil wir eine bestimmte Wendung wollen oder befürchten. Aber die offene Zukunft ist das Kennzeichen freiheitlicher Politik. Es ist die Forderung, sich für die Zukunft verantwortlich zu fühlen und nicht zu glauben, dass es irgendeine historische oder utopische Notwendigkeit gibt, die alles regelt. 

 

Es ist zugleich auch die Anforderung, die Einflussnahme nicht einzuschränken, sondern zu ermöglichen. Weder wirtschaftliche noch politische Prozesse dürfen eine Dynamik bekommen, in der sie sich einer demokratischen Kontrolle entziehen.

 

Und noch ein letzter Punkt in meiner kleinen Vorlesung über Popper: Helmut Schmidt hat mal gesagt, mit dem Prinzip der schrittweisen Reform habe Popper einen Wesensgesetz der Demokratie beschrieben. Gemeint ist die poppersche Sozialtechnik der kleinen Schritte. Es gibt viele Formulierungen dazu, alle beschreiben eine Haltung der Politik, die eine gewisse Demut umfasst. Natürlich muss man Wahlkampf machen und für die eigenen Anliegen werben. Aber Politik ist insgesamt ebenso fehlbar wie Naturwissenschaft. Das brauche ich Ihnen nicht erklären, Sie können das jeden Tag in der Zeitung lesen. Die Pointe von Popper ist, dass er das gut findet. Er weiß, dass eine Gesellschaft nur dann frei ist, wenn das Bewusstsein der Fehlbarkeit auch ihre Institutionen kennzeichnet. 

 

Man kann die Geschichte der Europäischen Union als Geschichte der Kritik an der EU erzählen. Seit mindestens 30 Jahren ist die Fehlbarkeit von Regelungen und Organen das Hauptthema. Manche sehen das als Zeichen dafür, dass sich dieser Weg nicht lohnt, die EU einen Konstruktionsfehler hat, und wollen zurück in die geschlossene Gesellschaft oder die längst vergangene Tradition. Die Verteidiger der EU als offene Gesellschaft hingegen, wissen, dass Politik darin besteht, sukzessive Irrtümer zu korrigieren. 

 

Diese Offenheit für eine bessere europäische Politik ist ein hoher Wert. Er ist vielleicht noch nicht überall in der Europäischen Union verankert. Aber ich sehe viele Europäerinnen und Europäer, die die EU als gemeinsamen Lebensraum einer offenen Gesellschaft weiter entwickeln.

 

Der Westen ist kein Ort. Aber seine Ideale und Institutionen sind doch in Europa und in den USA herausgebildet worden. Beides hat Winkler in der Geschichte des Westens beschrieben. Die Aufklärung, die Demokratie, der Rechtsstaat, die Marktwirtschaft und auch die sozialdemokratischen Anliegen des Sozialstaates und des Bildungsstaates sind mit Europa verbunden, bei allen schwerwiegenden Rückschlägen und Zivilisationsbrüchen des 20. Jahrhunderts in Teilen des Kontinents. In einer Welt, in der die relative Bedeutung Europas (und der USA) inzwischen abnimmt und westliche Demokratievorstellungen in manchen Regionen einen schweren Stand haben, ist es wichtig, dass wir Europa und damit diese Ideen und Institutionen, ja insgesamt das Konzept der offenen Gesellschaft stärken.   

 

Im Kontext Europas ist die Freizügigkeit der Bürgerinnen und Bürger und die Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine der wichtigsten Ausprägungen des Konzeptes einer offenen Gesellschaft. Davon war schon die Rede. 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger des EU-Europas können sich den Wohn- und Lebensort frei suchen. Als in den 1960er Jahren die Arbeitsmigration einsetzte, gab es noch einengende Vorschriften für spanische Gastwirte, die Interesse hatten, in Hamburg ein Restaurant zu eröffnen, und es hat Jahre gedauert bis zur Genehmigung. Das ist noch nicht so lange her. Und bis in die 1990er Jahre brauchten Deutsche eine carte de sejour, wenn sie für ein paar Monate in Frankreich studieren wollten. 

 

Wir müssen die Freizügigkeit verteidigen. Allerdings fürchte ich, dass wir uns intellektuell und moralisch auf die Konsequenzen der Freizügigkeit bisher nicht wirklich vorbereitet haben. 

 

Um das zu illustrieren, hilft ein Blick auf die USA, ein großes Land mit mehr als 300 Millionen Einwohnern und deshalb der Europäischen Union auch vergleichbar. 

 

Vorausschicken will ich aber, dass es an dieser Stelle noch nicht um Flüchtlinge geht, um Asylrecht und -praxis in Deutschland, Europa und anderswo. Das ist ein eigenes, großes und wichtiges Kapitel. Jetzt geht es mir zunächst um die Wanderungsbewegungen innerhalb der Europäischen Union aus dem Motiv des Pursuit of Happiness, um objektiv schlechten oder subjektiv als hinderlich erscheinenden Lebensumständen zu entkommen und durch Wechsel des Ortes, der Region, des Landes ein besseres Leben für sich und die Familie zu finden. Ein perpetuum mobile der menschlichen Existenz ist das.

  

Die USA sind historisch eine Gesellschaft von Siedlern und sie haben sich auch nach dem Sesshaftwerden der Pilgrim Fathers immer als Einwanderungsland verstanden, im Prinzip. (In anderer Weise galt das auch für Australien.) Es hat aber niemals Solidaritätsversprechen im Zusammenhang mit der Zuwanderung gegeben, über das vage und auch nicht für alle einlösbare Versprechen hinaus, die streets seien paved with gold für diejenigen, die ihre Chance erkannten und hart arbeiteten. Es wäre auch gar nicht denkbar gewesen, so viele Menschen aus aller Welt in ein Land zu lassen mit all den Schwierigkeiten, die wir aus Filmen und der Geschichte kennen, um dann zu sagen: Und wenn es nicht klappt, gibt es die Grundsicherung.

 

Es gehört zur kulturellen Tradition der USA, das eigene  Glück zu suchen. Und auch, dass jeder dabei auf sich allein gestellt bleibt. Das wird in weiten Teilen auch von vielen derjenigen akzeptiert, die Unterstützung gut gebrauchen könnten.

 

Will ich das jetzt als Vorbild hinstellen? Nein, und man sieht ja auch dort, dass in einer Gesellschaft, die bereits über Generationen existiert, das nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Und deshalb ist es kein Wunder und kein Zufall, dass der amerikanische Präsident Obama über die Frage diskutiert, ob die USA nicht ein bisschen mehr Sozialstaat wie in Europa bräuchten.

 

Aber das ist eine völlig andere Diskussion als in Gesellschaften, in denen zunächst nationale Solidaritätsversprechen formuliert wurden, wie das in den verschiedenen sich herausbildenden Nationalstaaten Europas der Fall war. Der heutige schwedische Sozialstaat hat sich aus der Idee des  Volksheims erschaffen. Die sozialdemokratische Partei Schwedens hat  diesen Gedanken für ihre Politik aufgegriffen.

 

Und wenn wir jetzt also den Blick von den USA wieder auf Europa richten und auf die Freizügigkeit in der Europäischen Union blicken 500 Millionen Europäer können den Wohn- und Arbeitsort frei wählen, darunter 220 Millionen Arbeitnehmer ,  müssen wir überlegen, was daraus folgt.

 

Es gehört zu den Problemen unseres zusammenwachsenden Europas, dass wenige wissen, dass es in vielen EU-Ländern, wenn man arbeitslos ist, nach kurzer Zeit oft keine Unterstützung gibt. Das gilt für Südeuropa. Ganz zu schweigen von Mittel- und Osteuropa.

 

Es hat im Jahr 2000 einen tollen Film mit der Sängerin und Schauspielerin Björk (Dancer in the Dark) gegeben, in dem sie in Kanada in einer Fabrik beschäftigt ist und, obwohl sie immer stärker erblindet, weiter an einer Maschine arbeitet hat, um das nötige Geld zu verdienen, damit die gleiche Krankheit bei ihrem Kind behandelt werden kann. Das ist in Deutschland unvorstellbar. In Deutschland wird seit geraumer Zeit uneingeschränkt für jeden eine solche Behandlung bezahlt, notfalls aus einer öffentlichen Kasse.

 

Zur Verteidigung der Freizügigkeit als wichtiger Konsequenz aus dem Konzept der offenen Gesellschaft gehört deshalb, dass wir uns damit auseinandersetzen, was wir leisten müssen, wollen und können. Und es bedeutet nicht, dass wir allen aus EU-Europa zugezogenen sofort 700 Euro im Monat versprechen. Das ist nämlich ungefähr das, was der deutsche Staat jedem Bürger als Mindestleistung plus Krankenversicherung garantiert. Und bei einer Familie mit zwei Kindern sind es so etwa 1400 bis 1500 Euro. Das ist kein Reichtum in unserer Gesellschaft, aber in Teilen Europas ein respektables Einkommen.

 

Blicken wir nochmal auf die USA. Wir glauben ja gern, dass dort die Lebensverhältnisse überall gleich sind. Das ist keineswegs der Fall. Es gibt dort Gegenden, in denen geht es schlechter zu als zum Beispiel in Rumänien. Und weil wir das nicht sehen und nicht wissen, haben wir vielleicht nicht zu Ende bedacht, was wir denn im Zusammenhang mit der von uns gewünschten Freizügigkeit in Europa tun müssen.

 

In Europa. Zur Idee der offenen Gesellschaft gehört natürlich auch, dass es keine unüberwindbaren Grenzen für diejenigen geben darf, die nach Europa streben. Das gilt für eine geordnete Arbeitsmigration und es gilt wiederum anders für die Aufnahme von Flüchtlingen. 

 

Klar ist, dass gleichwohl Grenzen bleiben und offene Grenzen für alle ein schöner Traum sind, aber kein erfüllbarer. Europa braucht deshalb Zuwanderungsregeln. So lange die Verhältnisse in der Welt so sind wie heute, wird es immer viele geben, die vor politischer Verfolgung, Krieg und Hunger flüchten, und die wir aufnehmen müssen, nicht nur weil uns ihre elende Situation zur Compassion auffordert, sondern auch, weil uns Grundrechte dazu verpflichten. Und es wird, zweitens, immer Migrationsströme geben, die von der Hoffnung auf ein besseres Leben gespeist werden. Wobei aus zweitens hoffentlich wieder erstens werden kann, wenn die derzeit weltweit riesigen Bürgerkriegs-, Kriegs- und Terrorismus-Flüchtlingszahlen die Chance haben, geringer zu werden. 

 

Für viele Menschen auf der Welt ist Europa heute ein Sugar Candy Mountain, von dem George Orwell seinen gezähmten Raben schwärmen lässt; der allerdings meint das Jenseits nach dem irdischen Leben. Wir wissen um die Boote mit Flüchtlingen auf dem Mittelmeer und wir haben kein einfaches entweder oder zur Auswahl, sondern Europa muss zugleich das Leben der Flüchtlinge retten und seine Grenzen sichern. Keine leichte Herausforderung oder sagen wir es gleich wie es ist: eine derzeit nicht wirklich lösbare, perspektivisch hoffentlich doch, aber in jedem Fall eine, die Europa nicht mehr im nationalstaatlichen Kontext lösen kann, sondern nur mit einer gemeinsamen Strategie der Europäischen Union.

 

Die gilt es zu finden und es gilt sie auch durchzusetzen. Auch wenn jedes Land letztlich eigene Entscheidungsräume in der Frage der Arbeitsmigration haben muss, so ist eine gemeinsame Solidarität beim Aufnehmen von Flüchtlingen kein nice to have, sondern es ist nicht anders als in der gemeinsamen Finanzpolitik und bei gemeinsamen Sozialstandards make or break für Europa. Sigmar Gabriel hat Recht: Niemand hat sich da aus der Verantwortung zu stehlen.


Union

 

Und da bin ich dann bei einer noch grundsätzlicheren Frage: Was für eine Union sind wir und werden wir sein? Der Historiker Simms sagt: Die Europäische Union müsse sich entscheiden, ob sie so einrichten will wie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, also ein Gebilde ohne zureichende staatliche Integration, das nicht in der Lage war eine gemeinsame Strategie nach außen zu entwickeln; oder ob sie den Vorbildern der englisch-schottischen oder der amerikanischen Union folgen und bei der weiteren Integration der europäischen Union  einen Schritt zulegen will. Er fragt rhetorisch und hat Recht. Wir brauchen weitere Integrationsschritte. 

 

Mehr Europäische Integration hat auch Konsequenzen für unsere gemeinsame Währung, den Euro. Ich halte den Euro für eine Errungenschaft. Die Schweiz erlebt gerade, was es heißt, ein Industrieland zu sein und eine den Schwankungen der Währungsspekulation unterworfene international gehandelte Währung zu haben. Und man kann sich vorstellen, was Deutschland passierte in der gegenwärtigen Situation: Wenn wir noch eine eigene deutsche Währung hätten, wären unsere Exportchancen kleiner als gegenwärtig.

 

Ich bin dafür, dass wir die nächsten Schritte gehen. Wir werden Kompetenzen an Europa abgeben müssen, was Banken, was Finanzmärkte und was Währung betrifft. Das schließt vermutlich bestimmte für uns gemeinsam wichtige Besteuerungen ein. Das bedeutet nicht, dass die EU die Steuern erhebt. Das wird ja auch in Deutschland nicht durch den Bundestaat gemacht, sondern durch die Länder.

 

Und ich knüpfe an Herrn Simms an: Wir müssen den Satz, den auch ich bis vor kurzem immer wiederholt habe, noch einmal überdenken: Die Integration von Verteidigung und Außenpolitik stehe am Ende des Integrationsprozesses der EU. Wir müssen uns fragen, ob wir nicht mehr Tempo brauchen, auch auf dem Gebiet. Und vielleicht ist der von uns allen immer für ganz selbstverständlich gehaltene und ständig wiederholte Satz, dass es am Ende stehen muss, schlichtweg nicht mehr richtig. Was das konkret an Konsequenzen bedeutet, ist noch nicht in jedem Detail zu beantworten. Aber meines Erachtens brauchen wir nicht nur einen quantitativen, sondern auch einen qualitativen Sprung im weiteren Integrationsprozess.

 

Selbstverständlich hat das auch Konsequenzen für Deutschland. Noch einmal Münkler: Die Bundesrepublik Deutschland, die über mehr als vier Jahrzehnte der Hauptempfänger des Sicherheitsexporteurs USA gewesen ist, muss nun selbst als Sicherheitsexporteur agieren.

 

Ob sich Sicherheit exportieren lässt, als redeten wir über Airbags, will ich dahingestellt sein lassen.  Und um Missverständnissen vorzubeugen, es geht hier nicht um militärische Optionen und schon gar nicht um nationale Alleingänge. Aber die Europäische Union und in diesem Rahmen Deutschland sind herausgefordert: durch Konflikte im Nahen Osten, in Afrika oder aktuell auch in der Ukraine. Diese Herausforderungen werden weder Europa noch Deutschland weiterhin alleine den USA zur Bewältigung lassen können. 

 

Gemeint ist die Europäische Union

 

Wenn wir von der weiteren Integration in Europa sprechen, meinen wir die Europäische Union. Das ist nicht der Blick weg vom übrigen Europa. Und der Blick schließt auch die Staaten ein, denen die EU eine Beitrittsperspektive eröffnet hat. Aber entweder will man den Integrationsprozess der EU, oder man entscheidet sich dagegen. Da spielt die Frage Union oder Heiliges Römisches Reich auch eine Rolle. 

 

Die drängt sich auch auf, weil wir an der Grenze Europas nun erleben müssen, dass Gewalt wieder ein Thema zwischen Staaten in Europa geworden  ist und dass Grenzen mit militärischen Mitteln verschoben werden. Das ist etwas, von dem wir gehofft haben, dass es nicht mehr vorkommt, auch, weil es ökonomisch und politisch grober Unfug ist und große Kosten für diejenigen, die so handeln, mit sich bringt. Von dem menschlichen Leid ganz abgesehen. Tatsache ist aber, dass es geschieht.

 

Russland und die Europäische Union

 

Und deshalb muss hier auch von Russland die Rede sein, dessen historischer Kern auf dem gemeinsamen europäischen Kontinent liegt. Die Gründung St. Petersburgs war ein europäisches Projekt der russischen Zaren und Kiew, auch wenn es jetzt nicht mehr Dreh- und Angelpunkt der Kiewer Rus ist, war schon eine große europäische Handelsstadt, als wir hierzulande noch von Wölfen umheult waren. (Neuerdings gibt es ja wieder welche.)

 

Der manchmal noch so genannte Osten ist Europa, keine Frage. Von Russland sollten wir verlangen, dass es die EU akzeptiert. Auch das ist keine Frage, aber es scheint nicht sicher der Fall zu sein. So jedenfalls mutet die Politik des russischen Präsidenten an. Sogar in seiner vielgelobten Rede seinerzeit im Bundestag klang schon die Skepsis gegenüber einer weiteren Integration der Europäischen Union heraus. Sein Anliegen ist ein Europa, in dem dann vielleicht Deutschland,  Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien und Russland eine Rolle spielen, aber nicht Polen oder Litauen  und gar nicht die EU. 

 

Die Zeiten in denen das so war, waren keine guten und keine friedlichen. Die damaligen Staaten gingen ständig neue Koalitionen miteinander und gegeneinander ein. Bismarcks Außenpolitik verfolgte stets das Ziel zu verhindern, dass sich drei der damaligen europäischen Mächte gegen Deutschland zusammenfänden. Solche prekären Zeiten sollten wir nie wieder heraufbeschwören. Und, darauf weisen Brendan Simms und Herfried Münkler doch hin: ein geeintes, auf sich gestelltes Deutschland in der Mitte haben seine Nachbarn immer als zu groß empfunden. Die EU ist für unsere Nachbarn der historische Weg, dieses Problem zu minimieren. Und für uns der Garant einer sicheren und friedlichen Zukunft.

 

Übrigens: die europaskeptischen und rechtspopulistischen Parteien in der Europäischen Union verstehen vielleicht deshalb Putin so gut, weil sie trotz der furchtbaren Lehren der Geschichte in dieser Hinsicht das Gleiche wollen.

 

Wir müssen von Russland verlangen, dass es die weitere Integration der EU akzeptiert und nicht versucht, ihr Steine in den Weg zu legen.

 

Gleichzeitig müssen wir uns die Frage beantworten, wie sich Russland gut entwickeln kann und auch dafür verantwortlich fühlen. Dafür ist wichtig, anders als Präsident Obama anzuerkennen, dass es sich bei der Russischen Föderation um eine große Macht handelt. Ein wichtiger Aspekt der Beziehungen zwischen Staaten ist Respekt. Die Demütigung anderer ist nie eine gute Idee. 

 

Um abermals auf Münkler zurückzukommen. Er beschreibt anhand der Ukraine-Krise die deutsche Politik. Leitidee dieser Politik ist, dass es bei einem Konflikt mit Russland keine militärische Lösung geben kann, weswegen beim Gebrauch der Machtsorten im Rahmen eines europäischen Gegenhandelns militärische Macht eine stark untergeordnete Rolle spielt schließlich ist Russland nach wir vor eine Atommacht.

 

Und er lobt, dass Deutschland zwei Versuchungen widerstanden hat. Zunächst der Versuchung, die Herausforderung von außen zu eskalieren, um sie als einen Faktor der inneren Integration in der Eurokrise zu nutzen. Deutschland habe andererseits auch der Versuchung widerstanden, die Ukraine-Krise zur Entwicklung deutsch-russischer Sonderbeziehungen über die Köpfe einiger Staaten Mitteleuropas hinweg zu nutzen. Das war wichtig. Denn anderenfalls hätte das bedeutet, die Europäische Union zu gefährden und das historisch gescheiterte Gerangel der Nationalstaaten an die Stelle der europäischen Integration zu setzen.

 

Russland fürchtet die offene Gesellschaft. Diese Einsicht ist meines Erachtens für das Verständnis der aktuellen Politik Russlands gegenüber der  Europäischen Union unabdingbar. Es gibt  unterschiedliche Konzepte, ein Land zusammen zu halten. Das Konzept, das wir für uns heute richtig finden, ist die offene Gesellschaft. Der Pluralismus wird von der Idee getragen, dass es auch die Unterschiede sind, die uns zusammenhalten und einen. Und wir haben kein Staatsziel in einem deterministischen, auf einen angeblich idealen Zustand gerichteten Sinn. Popper, der Theoretiker der offenen Gesellschaft hat das so gesagt: Die Zukunft hängt von uns ab, wir sind von keiner historischen Notwendigkeit abhängig. Uns verbindet, dass wir gemeinsam gut weiterkommen wollen. Es ist offensichtlich, dass der russische Staat sich auf die Frage, ob man Pluralismus aushalten und mit diesem Konzept als Staat zusammen bleiben kann, derzeit andere Antworten gibt als wir das tun.

 

Ich verstehe also die heute zu beobachtende Politik Russlands als Ausfluss der Ansicht, dass Pluralismus für das eigene Land nicht gutgehen könne; dass Pluralismus der staatlichen Integration entgegenstehe und die offene Gesellschaft eine Gefahr darstelle.

 

Jetzt spielen für die staatliche Integration Russlands andere Themen eine Rolle. Zum Beispiel der Patriotismus, im Zusammenhang damit die Großmacht-Idee, die orthodoxe Kirche. Fast sieht es so aus, als gingen lauter Atheisten mit fester marxistisch-leninistischer Grundausbildung jetzt beten. Das ist gegenüber manchen sicher ungerecht und Wendehälse gab und gibt es überall , aber es ist doch überall auf der Welt ein merkwürdiger Moment, wenn Atheisten wieder gläubig werden. Meistens sind es Politiker, die dafür Gründe haben. 

 

Und eine Rolle spielt natürlich auch das Ressentiment. Mich haben Fernsehsendungen sehr beeindruckt, in denen junge, tendenziell gewaltbereit dreinblickende Männer in Moskau erklären, nicht in dieses schwule Europa zu wollen. Das ist letztendlich die Konsequenz eines politischen Konzeptes, das Zusammenhalt über die Abgrenzung, über das Ressentiment herzustellen versucht. Und natürlich, indem man einen sehr starken, ja autoritären Staat etabliert. Das alles erleben wir gegenwärtig.

 

Ich erlaube mir einen Rückgriff in die Mythologie. Aus der Perspektive Putins und Russlands ist die Außengrenze der EU so etwas wie das Ufer der Insel der Sirenen. Von unseren Ufern ertönt der Gesang von der Demokratie, der Marktwirtschaft, der Freiheit, der Unterschiedlichkeit. Alles Gesänge, von denen dort geglaubt wird, dass sie die Integration des eigenen Landes gefährden aus den genannten Gründen Was ich sagen will ist, dass die offene Gesellschaft, der Pluralismus, unsere politische Demokratie, aus der Sicht der russischen Führung ein Sirenengesang sind, der als bedrohlich für die Integration des eigenen Landes empfunden wird. 

 

Die Antwort auf die Frage, wie wir erreichen können, dass der russische Staat nicht fürchtet, dass der Sirenengesang der offenen Gesellschaft, der von den Ufern der Europäischen Union erklingt, das russische Boot zum Kentern bringt, wird zu den wichtigsten Aufgaben der Politik und der Diplomatie gehören. Und zwar, weil wir von Russland erwarten, dass es die EU als sich staatlich integrierende Größe akzeptiert.

 

In der Mythologie hat es  geklappt: bei Orpheus und den Argonauten. Orpheus sagte, spielt die Leier so laut, dass man die Sirenengesänge nicht hört. Oder wie bei Odysseus, der sich den Rat hat geben lassen, die Ohren seiner Matrosen und seiner Seeleute mit Wachs zu verschließen, so dass sie die Gesänge nicht hören konnten.

 

Das sind und in dem Regal stehen sie mit Recht Sagen aus dem klassischen Altertum. Heute kann auf die Dauer niemand mehr Augen und Ohren vor realen Entwicklungen verschließen. 

 

Man muss sich auch gar nicht als Russland-Kenner oder, wie es früher hieß, Kreml-Astrologe in Positur stellen, um doch eines zu wissen: dass Russland viel zu viele großartige Beiträge zur europäischen Kultur über so viele Jahrhunderte geleistet hat, um sich jetzt marginalisieren zu lassen. Das will doch auch niemand ernsthaft, Deutschland zu allerletzt. Nicht von ungefähr gibt es Partner in der Europäischen Union, die insgeheim oder offen ausgesprochen eher das Gegenteil, nämlich eine zu große Nachgiebigkeit gegenüber Russland befürchten. Was aus der Sicht Polens und der baltischen Staaten historisch gute Gründe hat. 

 

Beide Ziele zu verfolgen und das auch unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen: dass man sich nicht vom Weg auf ein offenes, pluralistisches, marktwirtschaftliches, zusammen wachsendes, also attraktives Europa abbringen lässt und dass dies nicht die Absicht einschließt, sondern dass es sie ausschließt, das großartige Nachbarland Russland aus dem Spiel zu nehmen, abseits zu stellen diese beiden Ziele zu verfolgen und glaubwürdig zu kommunizieren, muss in der nächsten Zeit ein wesentliches politisches Ziel der Politik der Europäischen Union sein.

 

Es gilt das gesprochene Wort.