Rede von Olaf Scholz anlässlich des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie "Unsichere Zeiten" in Jena
Unsichere Zeiten heißt es in Ihrem Kongresstitel. Für einen Soziologen ist das so vermute ich zunächst einmal eine nüchterne, empirisch-analytische Beschreibung der Zustände in unserem Land. Für den Politiker aber bedeutet diese Diagnose zugleich auch eine normativ-praktische Aufforderung zum Handeln, zum Wiederherstellen von Sicherheit, zum Entwickeln von Orientierung. Denn wenn die Unsicherheit in immer mehr Lebensbereiche hineinkriecht, dann ist das nicht nur für eine Gesellschaft, die so sehr auf Sicherheit bedacht ist wie die deutsche, ein gefährlicher Befund. Es untergräbt letztlich ihr ethisch-politisches Fundament. Es macht es immer schwieriger, das Ethos der Arbeit, das Max Weber herausgearbeitet hat, auch tatsächlich als individuelle und gesellschaftliche Ressource zu erhalten. Die Würde der Arbeit ja auch die Bestimmung zum Besseren, die in ihr liegt gerät zwangsläufig unter Druck, wenn Arbeit schlecht bezahlt und sozial kaum abgesichert geleistet werden muss.
Mit dieser Entwicklung steht Deutschland allerdings nicht alleine da. Vor ähnlichen Herausforderungen stehen letztlich alle westlichen Industrieländer. Ich will daher quasi in Form einer phänomenologischen Oberflächenbetrachtung mit zwei US-amerikanischen Liedern beginnen, die jeweils den programmatischen Titel Working Mans Blues tragen. Wenn man beide vergleicht, dann wird die ganze Tragweite der Veränderung deutlich, um die es auf diesem Kongress geht. 1969 besingt der Country-Sänger Merle Haggard in seinem Workin Man Blues das harte, aber auch stolze Leben eines amerikanischen Arbeiters, der sich fest vornimmt, so lange zu arbeiten, wie es seine zwei Hände zulassen. 2006 klingt das bei Bob Dylan im Workingmans Blues #2 schon ganz anders: Da verdüstern immer niedrigere Löhne, verlagerte Jobs und sinkende Kaufkraft das Gemüt des Arbeiters. Hatte sein Vorgänger noch sein Schicksal selbst in der Hand und konnte bekennen, dass er niemals auf die Wohlfahrt angewiesen sein werde, kann sich der Arbeiter heute da nicht mehr so sicher sein.
Dieses popkulturelle Schlaglicht reklamiert natürlich keine analytische Aussagekraft, aber es steht exemplarisch für die veränderte Stimmung, der ich als Politiker regelmäßig im Lande begegne und die Sie in Ihrem Eingangsstatement umfassend beschrieben haben. Denn tatsächlich herrscht bei vielen ein Gefühl tiefer Verunsicherung. Und zwar nicht nur in den sozialen Brennpunkten an den ausfransenden Rändern unserer Großstädte deren Existenz wir in unserer nivellierten Mittelstandsgesellschaft lange Zeit für undenkbar hielten , sondern auch mitten im Herz des deutschen Wohlstandsmodells: im Arbeitsleben.
Viele alte Gewissheiten werden ungewiss. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bleiben aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr ihr gesamtes Berufsleben bei einem Arbeitgeber. Manche wechseln regelmäßig zwischen Festanstellung und Selbstständigkeit oft weil sie das müssen. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ziehen immer häufiger der Arbeit hinterher und bleiben nicht mehr über Jahrzehnte an einem Ort. Dahinter können neue Möglichkeiten stecken, aber auch Notwendigkeiten. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen mit einem Fluss an Informationen umgehen können, der nicht nur breiter, sondern auch schneller geworden ist. Anforderungen verändern sich beinahe wöchentlich. Das verlangt Flexibilität. Allerdings wäre es ein Trugschluss zu glauben, dass diese Flexibilität die ja auch ihre guten Seiten hat nur auf Kosten der Sicherheit in einer Gesellschaft zu haben wäre. Diesen Gegensatz gibt es vielleicht rhetorisch, nicht aber faktisch. Flexibilität kann unter sozialstaatlichen Rahmenbedingungen gewährleistet werden.
Der Sozialstaat muss selbstverständlich auf die Höhe der Zeit gebracht werden, um die heutigen Probleme und nicht die des 19. Jahrhunderts zu lösen. Aber er hat fantastische Leistungen in der Vergangenheit erbracht; und er ist dazu auch in Zukunft in der Lage. Die Idee des sozialstaatlichen Ausgleichs ist gerade angesichts verschärfter gesellschaftlicher Unsicherheiten aktuell. Solidarität in großen Institutionen zu organisieren und in Rechtsansprüche zu fassen bedeutet schließlich auch, sich in einer Gesellschaft einander zu versichern.
Die Kraft des Gemeinsinns ist eine wesentliche Ressource, weil sie dem Einzelnen Halt gibt bei dem Versuch, sein Leben zu meistern. Ja, wir müssen die Menschen befähigen. Das ist für den modernen Sozialstaat unabdingbar. Aber alle Empowerment-Diskussionen haben keinen Sinn, wenn sie nicht die soziale Dimension mit in den Blick nehmen. Wir müssen auch aufpassen, dass wir die Bürgerinnen und Bürger nicht mit dem Anschein einer permanenten Revolution aller Verhältnisse überfordern. Diese beinahe maoistischen Anwandlungen, die manche Wirtschaftsliberale an den Tag legen, sind weder psychologisch noch wirtschaftlich klug.
Ihr Kollege Rainer Paris hat im Mai im Handelsblatt zu Recht davor gewarnt, dass die Permanenz der Reformen und Reformreformen den Erwartungshorizont und die Wahrnehmung bestimmt. Das schürt vielfach nicht einfach nur Ängste und Unsicherheit, sondern das zerstört eine Grundbedingung des gesellschaftlichen Lebens und Alltagshandelns: das Gefühl oder zumindest die Aussicht von Normalität. Das Ergebnis, das kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung berichten, ist eine Art Reformparadox: Die Verhältnisse verändern sich und erzeugen Unsicherheiten. Um die alten Sicherheiten weiterhin zu gewährleisten, müssen sie einige der dazu genutzten Instrumente verändern. Das aber schafft kurzfristig nur noch größere Unsicherheit. Gänzlich umgehen lässt sich dieses Phänomen nicht, aber es ist möglich, zumindest seine mutwillige Steigerung zu verhindern. Der Wettlauf um die radikalsten Einschnitte jedenfalls hilft genauso wenig weiter wie der joviale Hinweis darauf, dass man jetzt einfach mal das Gesamtsetting eines anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells vorzugsweise aus dem angelsächsischen Raum übernehmen solle, dann werde schon alles besser. Wer das tut, der zerstört auch noch die letzten Reste Vertrauen, die wir als Reformressource dringend brauchen, um die kurzfristigen Effekte abzufedern, bevor die mittelfristigen Wirkungen eintreten können.
Alles Gerede von einem vermeintlich notwendigen Bruch mit unserem Entwicklungspfad ist daher aus meiner Sicht verfehlt. Ein Beispiel für eine Debatte, in der einige den deutschen Pfad verlassen wollten, ist die europäische Diskussion über Flexicurity gewesen. Wir haben von Anfang an gesagt, dass nicht ein Modell vorgegeben werden darf, sondern die jeweils gewachsenen nationalen Arrangements gesehen werden müssen. Da gibt es eben manche wie das dänische Modell, die eine üppige Arbeitslosenversicherung mit niedrigem Kündigungsschutz verbinden und so Sicherheit zwischen den Arbeitsverhältnissen organisieren. Und es gibt das deutsche Modell, Flexibilität in die bestehenden Strukturen, also auch in unbefristete Beschäftigungsverhältnisse hineinzutragen. Das ist möglich und wenn es uns gelingt, dann nimmt das schon viel von dem künstlich aufgebauten Druck, der auch im Spiel ist, wenn diese Fragen diskutiert werden.
Kündigungsschutz, Betriebsverfassung und Mitbestimmung stammen aus einer anderen Zeit. Sie passen aber auch noch zu einem deutschen Sozialstaat, der die Herausforderungen unserer Zeit bewältigt. Sie sind nach wie vor Grundlage der erfolgreichen Kooperation aller relevanten Kräfte in Wirtschaft und Gesellschaft. Wenn wir diese Aufgabe politisch angehen, dann in vollem Bewusstsein der Tradition unserer sozialen Marktwirtschaft und des Stolzes auf ihre Errungenschaften.
Erst kürzlich wieder hat der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser darauf hingewiesen, dass nicht die Regulierung des Arbeitsmarktes Grund für die aktuellen Verwerfungen ist, sondern vielmehr Versäumnisse im Hinblick auf ausreichende Bildung und Qualifizierung, ohne die eine Hochtechnologie-Wirtschaft wie die deutsche kaum leben kann.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir brauchen kluge Lösungen, die es ermöglichen, Sicherheit und Flexibilität nicht gegeneinander zu balancieren, sondern miteinander zum schwingen zu bringen. Olaf Struck hat in einem Aufsatz, den ich zur Vorbereitung gelesen habe, zu Recht Folgendes geschrieben ich zitiere:
Ein zentraler Ansatzpunkt für die Sorgen der Mitte um die Zukunft und die realen Probleme der Arbeitslosen und prekär Beschäftigten besteht darin, Zugangsbarrieren zum ersten Arbeitsmarkt abzubauen und Phasen der Nichterwerbstätigkeit in stärkerem Maße als bisher sozial zu sichern. Dabei kann das subjektive Sicherheitsgefühl auch bei objektiver Unsicherheit durch eine sozialstaatlich gesicherte Erweiterung des Erwartungshorizonts gestärkt werden.
Möglich ist das, was Olaf Struck hier fordert. Notwendig sowieso. Ich will Ihnen einige Beispiele nennen.
Erstens: Bildung, Ausbildung und Qualifizierung müssen jedem offenstehen und ihm ermöglichen, sein Potenzial voll zu entfalten. Am Beispiel des Rechtsanspruchs, sich auf das Nachholen eines Hauptschulabschlusses vorbereiten zu können, diskutieren wir gerade die Bedeutung der sichtbaren Durchlässigkeit unseres Bildungssystems. Nur wenn es uns gelingt, alte und verkrustete Strukturen zu sprengen, kann hier Zuversicht wachsen. Mehr als jeder Sechste, der derzeit arbeitslos ist, hat keinen Schulabschluss. Woher soll denn hier neue Sicherheit wachsen, wenn nicht aus dem Bewusstsein, das ich diese Situation wenn ich will durch eigene Anstrengung verändern kann? Das gilt auch für eine deutlich verbesserte Förderung der Weiterbildung. Jeder Arbeitnehmer muss das Recht haben, seine hart erarbeiteten Qualifikationen zu bewahren oder auszuweiten. Es ist auch an der Politik, dafür den Rahmen zu setzen.
Zweitens: Vom Versprechen der Vollbeschäftigung darf sich eine soziale Marktwirtschaft in einer demokratischen Gesellschaft nicht verabschieden. Das heißt: Niemand darf länger als ein Jahr arbeitslos sein. Dazu müssen wir nicht nur den Arbeitsmarkt stimulieren, sondern vor allem auch die Arbeitsvermittlung wie auch Schulen und Hochschulen zu den leistungsfähigsten Institutionen unseres Landes machen. Die dazu notwendigen Reformen sind in den letzten Jahren öffentlich eher als Quelle der Unsicherheit rezipiert worden. Aber das stimmt nicht: Sie haben Millionen von Menschen wieder die Perspektive auf Arbeit gegeben, darauf, das eigene Leben selbst in die Hand nehmen zu können. Das ist eine Voraussetzung dafür, Sicherheit und Selbstsicherheit erfahren zu können.
Drittens: Arbeit hat eine eigene Würde, die auch in einer angemessenen Entlohnung zum Ausdruck kommen muss. Weil das heutzutage keineswegs immer der Fall ist, steht seit einigen Jahren die Diskussion über den Mindestlohn weit oben auf der politischen Agenda. Er ist die logische Konsequenz zweier Entwicklungen: Über zwei, drei Jahrzehnte hinweg haben manche die Tarifautonomie und die Sozialpartnerschaft mit Forderungen nach Deregulierung und einem Ende der Kompromisse konsequent untergraben. Sie kennen diese Reden. Das Ergebnis heute ist, dass die Schutzinteressen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in manchen Bereichen nicht mehr durch Vereinbarungen der Tarifpartner allein zu sichern sind. Der Staat steht hier plötzlich mit in der Verantwortung, das zu sichern, was die Tarifparteien zuvor selbst geschwächt haben. Ein Weiteres kommt hinzu: Wenn wir im Zuge der Arbeitsvermittlungsreformen zu Recht sagen, dass jede Arbeit ehrenwert ist, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass das stimmt. Und manche Löhne sogar Tariflöhne von 3,18 Euro in Deutschland erfüllen derzeit nicht dieses Kriterium.
Mit den Entwürfen zum Mindestarbeitsbedingungengesetz und zum Arbeitnehmer-Entsendegesetz schaffen wir jetzt die Möglichkeit, dort Mindestlöhne branchenbezogen zu ermöglichen, wo sie gebraucht werden. Nicht bei Börsenbrokern, dort sind vielleicht muss ich sagen: noch keine Verwerfungen festzustellen, aber in den Branchen, in denen die Löhne nach unten gedrückt werden und Unsicherheiten nur deshalb entstehen, weil Flexibilität einseitig im Arbeitgeberinteresse interpretiert wird. Mit den beiden Gesetzen, deren Geltung sich am jeweiligen Grad der Tarifbindung in der Branche bemisst, schaffen wir Handlungsmöglichkeiten überall dort, wo Verwerfungen auftauchen. Dabei achten wir darauf, dass wir zunächst den Tarifparteien die Gelegenheit geben, die Dinge zu regeln und der Staat erst dann ins Spiel kommt, wenn es anders nicht mehr geht.
Sehr geehrte Damen und Herren,
viertens: Sicherheit in einer modernen Arbeitswelt bedeutet auch Souveränität im planvollen Umgang mit der eigenen Arbeitszeit. Deshalb haben wir in diesem Sommer das Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen auf den Weg gebracht. Dieses Gesetz hat das Potenzial, eines der wichtigsten Vorhaben dieser Legislaturperiode zu werden. Auch wenn es so unscheinbar daher kommt: Manchmal verbergen sich hinter kleinen Namen ja große Ideen. Im Kern geht es darum, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die durch Mehrarbeit angesparten Wertguthaben künftig mitnehmen können, wenn sie den Arbeitgeber wechseln. Und dass diese Guthaben nicht mehr verfallen, wenn der Arbeitgeber Insolvenz anmeldet. Dahinter steckt eine viel weit reichendere Idee: Denn wenn es uns gelingt, am Ende mit Tarifverträgen so etwas wie eine Arbeitszeitbank einzurichten, bei der Arbeitszeit wie auf einem Konto angelegt werden kann, dann wäre das ein geeignetes Instrument, um so mancher Unsicherheit heutiger Arbeitsmarktflexibilität die Spitze zu nehmen. Auf einem solchen Konto könnte man Zeit ansparen, um sich weiterzubilden, um in ein Sabbatical zu gehen oder um sich um die Familie zu kümmern. Schon heute ist es denkbar, das Konto erst zu überziehen quasi Zeit auf Kredit aufzunehmen und dann im Nachhinein zurückzuzahlen. Sie können kürzer treten, wenn Kinder kommen. Später im Leben noch einen Abschluss nachmachen. Oder vielleicht noch einmal richtig in der Arbeit aufgehen, wenn die Familie aus dem Gröbsten raus und das Eigenheim am Stadtrand gebaut ist. Mit so einem Modell kann es vielleicht auch gelingen, die dichtgedrängte Zeit zwischen 25 und 40, in der viele alles gleichzeitig erreichen müssen Karriere und Familie , so zu entzerren, dass beides besser möglich ist.
Wir leben länger. Wir arbeiten länger. Also haben wir mehr Zeit. Das sollte ein Vorteil sein. So sollten wir es zumindest organisieren. Hier haben die Tarifpartner noch viel Spielraum für kreative Verträge, in denen sie beweisen können, dass solidarische Vereinbarungen zum Wohle der Arbeitnehmer und der Betriebe möglich sind. Das gilt übrigens auch für die Schaffung eines einheitlichen Arbeitsvertragsgesetzbuches. Man darf die Hoffnung ja nie aufgeben. Aus flexiblen Arbeitszeitregelungen, die in einem sozialstaatlichen Kontext entwickelt werden, kann eine ganz eigene, große Kultur erwachsen. Von der Bedeutung her wäre sie ähnlich der des Normalarbeitsverhältnisses mit geregelter Arbeitszeit und Fünf-Tage-Woche, an das sich auch meine Generation noch gewöhnt hat. Ein solches Instrument wäre übrigens auch inhaltlich der Kern dessen, was innerhalb der SPD gerade als Arbeitsversicherung diskutiert wird. Auch hier geht es darum, auf veränderte Arbeitsmarktstrukturen zu reagieren und kluge Lösungen zu entwickeln, die Freiheit und Sicherheit miteinander verbinden und so wechselseitig stärken. Kerngedanke ist, dass die Angebote der heutigen Arbeitslosenversicherung früher greifen sollen im Idealfall bevor Arbeitslosigkeit entsteht. Im Hamburger Programm von 2007 hat die SPD dazu beschlossen: Die Arbeitsversicherung soll berufliche Übergänge und Erwerbsunterbrechungen absichern sowie Weiterbildung in allen Lebensphasen gewährleisten. Dafür ist eine moderne Arbeitszeitpolitik mit klugen Arbeitszeitkonten, bei denen ein ganzes Berufsleben lang eingezahlt und abgehoben werden kann, entscheidend. Aber dazu sollte auch eine deutlich höhere Altersgrenze beim BAföG kommen, damit man sich auch später noch ein Studium leisten kann. Genauso brauchen wir mittelfristig einen Rechtsanspruch auf unbezahlte Weiterbildungszeit und auf bezahlte Weiterbildung bei technischer Anpassung.
Das alles sind Aspekte, die wir in der Debatte um die Arbeitsversicherung verknüpfen müssen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
fünftens: Zu einer modernen Arbeitswelt gehört die Möglichkeit, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Gewinn und Kapital zu beteiligen. Wir haben in der Koalition beschlossen, kleinen und mittleren Betrieben diesen Schritt zu erleichtern. Vor dem Hintergrund der immer weiter auseinandergehenden Schere zwischen Löhnen und Gewinnen ist das ein sinnvolles Vorhaben. Im internationalen Vergleich hinkt Deutschland trotz seiner Mitbestimmungskultur erheblich hinterher, wenn es um die materielle Beteiligung am Betrieb geht. Viele Unternehmen haben aber mittlerweile erkannt, dass sie ihre engagierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Beteiligung an das Unternehmen binden können. Auch das schafft Sicherheiten.
Sechstens: Auch diejenigen mit gebrochenen Berufsbiographien oder kleinen Einkommen aus Selbstständigkeit oder Freiberuflichkeit haben Anrecht auf eine ausreichende und verlässliche Absicherung im Alter. Das wird häufig unter dem Label Erwerbstätigenversicherung diskutiert. Ich will hier nicht in semantische Debatten einsteigen. Richtig ist aber, dass wir uns um diese im Übrigen sehr heterogene Gruppe kümmern müssen und dass es in ihr Personen gibt, denen wir ein Angebot fürs Alter machen müssen, wenn wir künftiger Altersarmut vorbeugen wollen. Plausible Ideen gibt es eine ganze Menge, aber funktionierende Konzepte hat noch niemand in der Schublade. Klar ist nur, dass wir Unsicherheiten nur dann abbauen können, wenn wir auch in der Lage sind, glaubwürdig zu versichern, dass sich die heutigen Anstrengungen auch im Alter bemerkbar machen werden.
Sehr geehrte Damen und Herren,
die neuen Unsicherheiten werden uns politisch noch eine ganze Weile begleiten. Per Beschluss beseitigen lassen sie sich jedenfalls nicht. Politik ist nicht mehr und war wahrscheinlich nie in Kenntnis des einen archimedischen Punktes, von dem aus sich das Ganze verändern ließe. Aber Politik steht in der Verantwortung, ganz pragmatisch Lösungen für die anstehenden Probleme zu entwickeln und umzusetzen. Ein paar der wesentlichen Herausforderungen habe ich Ihnen genannt. Dabei ist aber auch deutlich geworden, dass es der Mitwirkung der klassischen Akteure auf dem Arbeitsmarkt bedarf. Ich bin der festen Überzeugung, dass es uns gelingen muss, sowohl Arbeitgeberverbände als auch Gewerkschaften wieder in die Lage zu versetzen, miteinander konstruktiv zu reden. Die öffentliche Inszenierung der Differenz, um die eigene Mitgliedschaft zu stabilisieren, ist das eine. Aber daneben muss der konstruktive Dialog in der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen wieder möglich werden.
Alle Vorhaben, die ich beschrieben habe, setzen auch darauf, dass hier wieder mehr geht als in der Vergangenheit. Die Alternative dazu wäre nämlich, dass sich der Staat dauerhaft und noch stärker als in der Vergangenheit als Regulator des Arbeitsmarktes in die Pflicht nehmen lassen muss. Damit ließen sich Unsicherheiten reduzieren. Aber es wäre nur die second-best-option verglichen mit einer klugen und maßvollen Kooperation der Verbände. Erst das Zusammenspiel staatlicher Initiative und sozialpartnerschaftlicher Verhandlungen bildet das Fundament, auf dem neue Sicherheiten in unserer Arbeitsgesellschaft entwickelt und gebaut werden können.
Sehr geehrte Damen und Herren,
keine Frage, die Unsicherheiten in unserer Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt sind gewachsen: Die technische und digitale Revolution, die neuen Möglichkeiten der Mobilität, alles das sind Erdstöße, deren seismische Wirkungen deutlich spürbar sind.
Aber: Wenn sich die Landschaft verändert, dann hilft es nicht, den alten Weg gehen zu wollen. Wir haben keine Zeit für Melancholie. The place I love best is a sweet memory, singt Bob Dylans Workingman. Und fährt fort: Its a new path that we trod. Um diesen neuen Pfad müssen wir uns kümmern. Der alte Weg ist vielleicht längst verschüttet oder zum Umweg geworden. Wir brauchen neue Wege, auf denen wir uns in Bewegung setzen können. Dabei spielt jeder seine Rolle. Die Wissenschaft kann ein wichtiger Pfadfinder sein. Ich hoffe nicht, dass die Befürchtung von Stephan Lessenich wahr wird und die Soziologie den Prozess der Neuerfindung des Sozialen an sich vorbeiziehen lässt. Unabhängig davon, ob wir wirklich eine Neuerfindung oder nicht vielmehr eine Neufundierung des Sozialen brauchen, steht für mich fest:
Politik braucht Sozialwissenschaft. Denn der wissenschaftlich kühlere Blick, der von unmittelbaren Handlungsverpflichtungen abstrahieren kann, ist die Grundlage jener Analyse, ohne die wir den richtigen Weg nicht finden werden. Deswegen suche ich den Dialog mit Wissenschaftlern, deswegen bin ich gerne hierher gekommen. Und ich freue mich, dass es auch Ihrerseits Bereitschaft gibt, den Dialog mit der zwangsläufig immer unzureichenden Praxis zu suchen. Denn Politikerinnen und Politiker müssen handeln. Auch für uns sind mit der Zeit die Zonen der Unsicherheit gewachsen, in denen wir uns bewegen. Je komplexer die Gesellschaft, desto weniger absehbar die Folgen einer einzelnen Policy-Initiative. Wir müssen deshalb bereit sein zum inkrementellen Handeln und zur Korrektur, so sie nötig sein sollte.
Eines aber dürfen wir nicht: Zaudern und zögern. Die Bürgerinnen und Bürger verlangen neben aller Analyse pragmatische und vor allem funktionierende Lösungen für ihre Probleme. Damit und nicht mit Maximalforderungen erreichen wir, dass Sicherheit und Vertrauen in unseren Sozialstaat wieder wachsen.
Wer Ordnung schaffen will, der muss nach politischen Lösungen streben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.