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03.05.2013

Über Öffentlichkeit

 

Sie werden es mir vermutlich nicht glauben, dass ich mich auf diesen Abend in der Buchhandlung Felix Jud sehr gefreut habe. Doch es ist genau so. Die Bücherstube, wie sie zu Zeiten von Felix Jud noch hieß, gehört zu den ersten geistigen Adressen unserer Stadt. Da das Lesen zu den Beschäftigungen gehört, von denen ich mich auch durch die Politik nicht abbringen lasse, ist es für mich ein Glück, hierher eingeladen zu sein. Und wenn es dabei um ein Buch geht, das die Lebenssphäre eines Politikers zum Thema hat, komme ich besonders gern.

 

Den Autor des Buches, Volker Gerhardt, kenne ich schon lange. Meine Aufgaben in der deutschen Politik als Bundestagsabgeordneter, als Bundesminister brachten es mit sich, dass ich häufig zwischen Berlin und Hamburg pendelte. 

 

Im Zug las ich ein Buch mit dem Titel Partizipation. Das Prinzip der Politik und mein Blick fiel auf einen Mitreisenden, dem das Autorenfoto im Klappentext des Buches ziemlich ähnlich war. Nach einigem Zögern sprach ich den intensiv an seinem Notebook arbeitenden Herrn an und fand meine Vermutung bestätigt. So ergab sich ein Gespräch mit dem in Berlin an der Humboldt-Universität lehrenden, aber in Hamburg wohnenden Autor Volker Gerhardt. 

 

Das war der Anfang einer in lockeren Abständen fortgeführten Folge von Gesprächen in der Bahn und gelegentlich auch in einem Hamburger oder Berliner Restaurant. Sie brachten mich dazu, auch eine Kant-Monographie des Autors zu lesen; er hielt eine heiter gestimmte Geburtstagsrede zu meinem Fünfzigsten, ließ sich von mir animieren, Michael Naumann im Wahlkampf zu unterstützen und bezog mich in Überlegungen zu seinen wissenschaftlichen Plänen ein. Dabei ging es zunehmend um das Thema der Öffentlichkeit. 

 

Dabei empfand ich es als besonders anregend, dass Gerhardt zufolge bereits das Bewusstsein, das individuelle Bewusstsein eines jeden Einzelnen, als öffentlich anzusehen sei. Es ging ihm darum, selbst noch den Inbegriff des Persönlichen und Privaten als öffentlich ausweisen und erklärte mir ein über das andere Mal, er könne das Buch nicht abschließen, solange er sich darüber keine Klarheit verschafft habe.

 

Aus der Tatsache, dass sein Buch nun vorliegt, schließe ich, dass er eine Ant-wort gefunden hat, die er als Lösung begreift. Viele werden seine Auffassung als provozierend empfinden und sich fragen, was von der politischen Bedeutung der Öffentlichkeit bleibt, wenn gleichsam alles Denken, Vorstellen und Sprechen öffentlich ist? 

 

Die Skeptiker können beruhigt sein. Der Schutz der Privatsphäre wird nicht in Frage gestellt, wenn wir mit dem Autor verstehen, dass auch das Geschehen in der Privatsphäre einen Öffentlichkeitsbezug hat.

 

Das Werk ist im ersten historisch angelegten Teil überaus lesenswert und gibt im nachfolgenden systematischen Teil einen höchst beachtlichen Aufschluss über den Sinn von Öffentlichkeit. So erscheint sowohl im geschichtlichen Aufriss wie auch in der soziologisch-politologischen  Analyse die Verbindung von Öffentlichkeit und Politik in einem neuen Licht. 

 

Das kann ich kurz erläutern:  Zu den anregendsten soziologischen Büchern, die ich bereits vor meinen Jura-Studium gelesen habe, gehört Jürgen Habermas‘ Strukturwandel der Öffentlichkeit von 1962. Darin wird gezeigt, wie die bürgerliche Gesellschaft gleichsam im Medium der von ihr selbst geschaffenen Öffentlichkeit entsteht und sich in ihr zugleich gefährdet. 

 

Volker Gerhardt kann nun belegen, dass die Öffentlichkeit um vieles älter ist und bereits zur Gründungsgeschichte der frühgeschichtlichen Reiche des alten Orients gehört. Im Athen des Perikles hat sie bereits eine Blüte erlebt und ist dabei keineswegs nur auf die Politik, sondern auf die Kultur als Ganze bezogen. Die Künste, die Geschichtsschreibung und die Wissenschaften sind schon in der klassischen Antike in einem durch Aktivität erfüllten Geist der Öffentlichkeit groß geworden, und die Moderne hat dieses Erbe nicht nur produktiv fortgeführt, sondern mit allen ihr zur Gebote stehenden Mitteln globalisiert. Aus der territorialen Öffentlichkeit der alten Kulturen und der frühen Staaten ist die Weltöffentlichkeit geworden.

 

Das führt zu einer mir keineswegs unsympathischen Relativierung der Politik. Denn Politik lässt sich auch aus der Perspektive der Öffentlichkeit nur als Teil des kulturellen Geschehens verstehen. Politik ist nicht die alles in autonomer Selbstherrlichkeit lenkende Zentralgewalt einer Gesellschaft, sondern sie ist nur eine Kraft unter vielen anderen kulturellen Kräften. Sie kann nur im Verein mit der Entfaltung der gesellschaftlichen Energien, mit dem Ausbau von Technik und Arbeitswelt, mit Professionalisierung und allgemeiner Bildung, mit Wissenschaft und Kunst und, nicht zu vergessen, auf einer soliden wirtschaftlichen Grundlage erfolgreich sein. Ohne sie kommt es auch nicht zu den sozialen Leistungen, um die es uns im Interesse aller gehen muss. Dazu braucht die Politik einen umfassenden Raum gesellschaftlicher Verständigung, der weit über das hinausgeht, was sie an Verlautbarungen von sich gibt. 

 

Dieser Raum ist die Öffentlichkeit, die man, wie Gerhardt zeigt, nicht auf eine spezielle Gesellschaftsformation beschränken kann, die aber immer von Neuem die Freiheit der Individuen fordert. Das gefällt mir an dem Buch: dass für das Verständnis der Öffentlichkeit und ihrer Entwicklung keine richtige Öffentlichkeit zu Grunde gelegt wird und doch, wenn man so will, die immanenten Gesetze der Öffentlichkeit, die Demokratie und die Freiheit fördern.

 

Brüche und Widersprüche der Öffentlichkeit hat Mario Vargas Llosa in seinem Roman Der Krieg am Ende der Welt beschrieben. Die junge Republik Brasilien wird beschrieben. Alle verstehen alles falsch. Es geht nicht gut aus. Und doch wird sichtbar, dass Öffentlichkeit nach Freiheit ruft.

 

Öffentlichkeit ist auch in dem Sinne demokratisch, als sie sich nicht auf den Diskurs und die Verständigung hochinteressierter Weniger beschränkt, sondern sich immer auf Alle bezieht.

 

Die zweite mir wichtige Einsicht ist mit Gerhardts Antwort auf die von den Soziologen gestellte Frage nach dem Sinn von Öffentlichkeit verbunden: Der Sinn, oder besser gesagt: die Funktion der Öffentlichkeit liegt darin, Meinungsvielfalt produktiv zu machen und zugleich die Chance zu bieten, mehrheitlich zu Vereinbarungen zu gelangen, die es einer Gesellschaft aus eigenständigen Individuen erlauben zentrale Entscheidungen zu fällen und, wo nötig, auch einem Willen zu folgen. 

 

Nur im Medium der Öffentlichkeit ist es möglich, jedem die Freiheit des eige-nen Urteils zuzugestehen und dennoch in den Lebensfragen einer Gesellschaft eine mehrheitliche Übereinkunft zu erzielen, die es selbst einer großen Menge von Menschen ermöglicht, als Ganze handlungsfähig zu sein. Damit erweist sich die Öffentlichkeit nicht nur als eine elementare Bedingung der Politik: Ihre Logik zielt auf die Entfaltung der Demokratie. 

 

Sie, meine Damen und Herren, werden es einem überzeugten Demokraten nicht übelnehmen, wenn er eine Theorie, die, wenn auch auf neue Weise, zu einem solchen Ergebnis führt, mehr als bloß respektabel findet. Das sage ich mit dem hanseatischen Understatement, zu dem ich nicht nur ohnehin neige, sondern zu dem ich als Bürgermeister auch dienstlich verpflichtet bin.

 

Erschienen im Magazin 5 Plus 1/2013