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15.08.2010

Wenn Arbeitnehmer ab einem bestimmten Alter aussortiert werden, muss die Politik reagieren

Interview mit der Welt am Sonntag 


Welt am Sonntag: Herr Scholz, in welchem Alter werden Sie das gesetzliche Renteneintrittsalter erreichen?

 

Olaf Scholz: Nach der geltenden Gesetzeslage mit 66 Jahren.

 

Welt am Sonntag: Diese Zahl haben wir auch ermittelt. Dennoch tun SPD und Gewerkschaften so, als gelte die Rente mit 67 längst.

 

Scholz: Da haben Sie falsch hingehört. Ich kenne niemanden, der das behauptet.

 

Welt am Sonntag: Sie haben als Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD die Rente mit 67 durch das Parlament gepaukt...

 

Scholz: ...stimmt!

 

Welt am Sonntag: Was ist falsch an dieser Reform?

 

Scholz: Wir haben beschlossen, dass die Regelaltersgrenze ab 2012 allmählich bis zum Jahr 2029 steigt. Wir haben beschlossen, dass wir diesen Plan vor dem Inkrafttreten überprüfen. Der Arbeitsmarkt muss die Voraussetzungen dafür hergeben. Arbeiten also so viele der über 60-Jährigen, dass die Regelarbeitsgrenze auf 67 Jahre steigen kann? Danach sieht es nicht aus.

 

Welt am Sonntag: Grundsätzlich hält die SPD aber an einem höheren Rentenalter fest?

 

Scholz: Der Zusammenhang zwischen dem wachsenden Lebensalter und einer steigenden Lebensarbeitszeit wird dabei von kaum jemandem infrage gestellt.

 

Welt am Sonntag: Warum wollen dann viele in der SPD zurück zu einem Renteneintrittsalter von 65 Jahren?

 

Scholz: Gerade einmal jeder fünfte über 60-Jährige hat einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz. Wer behauptet, die Älteren seien Gewinner am Arbeitsmarkt, sagt die Unwahrheit. In der Krise hat sich die Arbeitslosigkeit der über 60-Jährigen fast verdoppelt. Mancher baut uns da eine Scheinwelt auf wie in der DDR. Da gab es ständig Planerfüllung und trotzdem leere Läden. Wir dürfen die Älteren nicht verhöhnen und ihnen eine Wirklichkeit vorgaukeln, die es nicht gibt. Es findet ja noch nicht einmal jeder über 50 einen Job!

 

Welt am Sonntag: Werden Sie an der Rente mit 67 generell festhalten und diese nur aussetzen, oder wickeln Sie sie ab?

 

Scholz: Das SPD-Präsidium wird noch im August einen Beschluss zum Thema Rente fassen. Unser Maßstab sind dabei die derzeitigen Beschäftigungschancen Älterer. Solange deren Erwerbsquote so gering ist, kann man die Regelaltersgrenze nicht anheben. Ich halte viel von dem politischen Versprechen: Wir kämpfen für diejenigen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten. Aber ältere Menschen müssen auch arbeiten dürfen!

 

Welt am Sonntag: Die SPD will die Rente mit 67 so lange aussetzen, bis mehr über 60-Jährige Jobs haben. Ab welcher Quote sind denn genug Ältere in Arbeit, dass die Rente mit 67 kommen kann?

 

Scholz: Ich finde es schwierig, hier eine feste Quote zu nennen. Die etwa 20 Prozent älteren versicherungspflichtig Beschäftigten, die wir heute haben, reichen nicht. Wir können uns gern im gesellschaftlichen Konsens über eine Quote verständigen. Dafür muss die Regierung bereit sein, die Überprüfungsklausel im Gesetz ernst zu nehmen.

 

Welt am Sonntag: Noch vor wenigen Jahren wurden zahlreiche Arbeitnehmer bewusst früh in Rente geschickt, weil es Politik und Tarifpartner so wollten.

 

Scholz: Die Frühverrentung war ein Fehler, hat aber nichts mehr mit dem heutigen Beschäftigungsgrad Älterer zu tun. Wir müssen nicht Debatten der Vergangenheit führen. Als Arbeitsminister wollte ich bei Betriebsbesuchen immer mit über 60-jährigen Arbeitnehmern sprechen. Das hat nur selten geklappt, weil es keinen gab.

 

Welt am Sonntag: Tritt die SPD wieder für die Rente mit 67 ein, sobald sie wieder regiert?

 

Scholz: Unsere Debatte ist ernst und sorgfältig, damit die Beschlüsse gelten und zwar auch, wenn wir regieren.

 

 Welt am Sonntag: Die Rente mit 67 gilt in der SPD als wesentlicher Grund für ihre Niederlage bei der Bundestagswahl 2009. Hat Ihr Kurswechsel damit nichts zu tun?

 

Scholz: Natürlich führen auch schlechte Wahlergebnisse zum Nachdenken.

 

Welt am Sonntag: Wie erklären Sie, dass SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier am liebsten bei dem Status quo bliebe?

 

Scholz: Wir diskutieren derzeit und stellen uns weit mehr der Realität als die heute Regierenden.

 

Welt am Sonntag: Freuen Sie sich schon auf einen möglichen Parteitagsauftritt von Franz Müntefering, in dem er für die bisherige Rente mit 67 plädiert?

 

Scholz: Eine Partei kann sich nur ernst nehmen, wenn sie miteinander diskutiert. Das werden wir tun.

 

Welt am Sonntag: Wenn immer mehr Leute in Rente gehen und länger Rente beziehen, aber weniger Arbeitnehmer diese Rente finanzieren geht das gut?

 

Scholz: Natürlich nicht, das weiß jeder, und deshalb gab es seit den 1980er-Jahren fünf große Rentenreformen. Bei Rentenerhöhungen wird heute die demografische Entwicklung berücksichtigt. Die Reformen haben dazu geführt, dass Deutschland ein stabiles System zur Alterssicherung hat. Das wiederum ist wenig bekannt. Diese Stabilität wurde dadurch erreicht, dass die Rentenerwartungen heute geringer sind als in den 1980er-Jahren. Deshalb wird ja auch die private Zusatzversicherung staatlich gefördert. Auf den Spruch, Die Politiker denken nur kurzfristig an die nächsten Wahlen, gibt es Kopfnicken, Beifall und zustimmende Mails. Aber blicken Sie doch auf die Rentenreformen der vergangenen Jahrzehnte. Diese waren parteiübergreifend langfristig angelegt.

 

Welt am Sonntag: Damit die Renten bezahlbar bleiben, gibt es vier Varianten: einen höheren Rentenbeitrag, einen höheren Steuerzuschuss zur Rentenkasse, eine Rentenkürzung oder längeres Arbeiten, etwa bis 67. Wofür sind Sie?

 

Scholz: Ich finde länger arbeiten gut. Aber es darf keine hohle Phrase sein, die die Bürger nicht umsetzen können. Die Arbeitnehmer, die ihre Arbeit machen, wollen ihr Auskommen haben und sozial abgesichert sein. Wenn Arbeitnehmer ab einem bestimmten Alter aussortiert werden, muss die Politik reagieren. Wir brauchen eine bessere Arbeitsvermittlung und entsprechende Programme und kritisieren die gegenteiligen, zynischen Pläne der Koalition. Vor allem aber ist es Aufgabe der Arbeitgeber, Ältere einzustellen. Erst wenn sie das tun, nehme ich die Äußerungen ihrer Verbandsvertreter zum Renteneintrittsalter wieder ernst.

 

Welt am Sonntag: Wie lange wollen Sie arbeiten?

 

Scholz: Weit über die gesetzliche Regelaltersgrenze hinaus! Wenn man mich denn läss.

 

Das Interview führten P. Neumann und D. F. Sturm. Sie finden das Interview auch auf der Homepage der Welt.