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13.03.2004

Zur Zukunft der freien Wohlfahrtspflege in Europa

Sehr geehrter Herr Gohde, sehr geehrter Herr Ruff,
 meine sehr verehrten Damen und Herren,


ich freue mich, dass ich heute zum Abschluss Ihres Kongresses zur Zukunft der freien Wohlfahrtspflege im europäischen Kontext mit Ihnen ins Gespräch kommen kann und danke Ihnen für die Einladung.
 
Sie haben in den letzten Tagen die verschiedenen Herausforderungen ausgelotet, die sich durch die Europäische Union für die freien Wohlfahrtsverbände stellen. In meinem Beitrag möchte ich nun die politischen Optionen ausloten, die den Rahmen und letzt-lich auch die Bedingungen für die künftige diakonische Arbeit in freier Trägerschaft bilden. Ich bin überzeugt, dass alles politische Handeln und dazu zähle ich auch die Tätigkeit freier Wohlfahrtsverbände nur dann erfolgreich umgesetzt und von Bürge-rinnen und Bürgern mitgetragen wird, wenn es sich einer überzeugenden Zielperspek-tive verpflichtet weiß. Und diese Zielperspektive ist für mich und ist für die deutsche Sozialdemokratie soziale Gerechtigkeit.

I.

Gerecht ist, was Menschen in die Lage versetzt, ihr Leben so zu gestalten und zu orga-nisieren, wie sie es selbst gerne gestalten und organisieren möchten. Mit anderen Wor-ten: Gerecht ist, was Menschen stärkt. Es geht darum, tatsächliche Lebenschancen zu eröffnen und für echte Chancengleichheit in einer solidarischen Gesellschaft zu sorgen. Der Philosoph John Rawls spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit, gesellschaftliche Grundgüter zu sichern, zu denen er Rechte, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen zählt und nicht zuletzt das Grundgut der Selbst-achtung. Selbstachtung meint zum einen die sichere Überzeugung, dass die eigene Vorstellung vom Guten, der eigene Lebensplan, wert ist, verwirklicht zu werden. Zwei-tens gehört zur Selbstachtung ein Vertrauen in die eigene Fähigkeit, seine Absichten, soweit es einem eben möglich ist, auszuführen.

Ein solches Konzept von Gerechtigkeit ist untrennbar mit konkreter Freiheit verknüpft. Das heißt im Umkehrschluss: Eine Politik, die Menschen dauerhaft in Abhängigkeit bringt und sie entmündigt, ist weder frei noch gerecht. Politik muss vielmehr die Be-dingungen dafür schaffen und sichern, dass Menschen einerseits befähigt und ande-rerseits ermächtigt werden, ein selbstbestimmtes, verantwortliches Lebens zu führen. Hier, so vermute ich, berühren sich meine Überlegungen direkt mit denen der kirchli-chen Diakonie. Denn auch im biblischen Kontext ermöglicht ja Gerechtigkeit Teilhabe.

Das ist zunächst eine allgemeine und abstrakte Begriffsbestimmung. Die Auseinander-setzung beginnt in der Tat da, wo es darum geht, im Einzelnen die Schritte und Maß-nahmen zu bestimmen, die zu (mehr) sozialer Gerechtigkeit führen. Antworten auf die-se Frage müssen wir unter radikal veränderten Bedingungen geben. Die Stichworte Globalisierung, demografische Entwicklung und Massenarbeitslosigkeit um nur drei zu nennen markieren ein Problemgemenge, dem keine am sozialstaatlichen Status quo der alten Bundesrepublik festhaltende Politik mehr gerecht werden kann. Es reicht nicht mehr, Gerechtigkeit als Frage der gerechten Verteilung des Zuwachses an Wohlstand und Einkommen durchzubuchstabieren. Wir müssen vielmehr alle Struktu-ren, in denen wir soziale Gerechtigkeit organisieren, daraufhin überprüfen, ob sie an-gesichts der drastischen und rapiden Veränderung der ökonomischen und sozialen Ba-sis unserer Gesellschaft dem Ziel einer gerechten Gesellschaftsordnung noch entspre-chen oder wie sie gegebenenfalls verändert werden müssen. Ich plädiere also für einen dynamischen  Gerechtigkeitsbegriff, der im Blick hat, dass sich die Voraussetzungen nachhaltiger Gerechtigkeit von denen bisheriger Gerechtigkeit durchaus unterscheiden können.

II.

Die beiden Politikfelder, auf denen über Erfolg oder Misserfolg entschieden wird, sind Bildung und Arbeit

Um so erschreckender ist dem gegenüber der empirische Befund. Nach internationalen Vergleichsstudien des Heidelberger Sozialstaatsforschers Wolfgang Merkel liegt Deutschland im Vergleich von 19 westlichen Industrienationen anhand der Kriterien Armut, Bildung, Arbeitsmarkt, Sozialstaat und Einkommensverteilung nur abgeschla-gen auf Rang 11. Im Blick auf Arbeitsmarkt und Bildung also genau da, wo über ge-rechte Lebenschancen und die Zukunftsfähigkeit unseres Landes entschieden wird ist das Ergebnis besonders schlecht. In der Tat: Dass so ein reiches Land wie Deutschland immer noch mehr als zehn Prozent Schüler hat, die die Schule ganz ohne Bildungsab-schluss verlassen, ist eine Katastrophe, die man nicht hinnehmen kann.
Darüber hinaus hat die PISA-Studie gezeigt, dass in Deutschland wie in kaum einem anderen westlichen Land die soziale Herkunft über die Bildungs-, Berufs- und Lebens-chancen entscheiden. Die soziale Aufwärtsdynamik der sechziger und siebziger Jahre ist fast vollständig zum Stillstand gekommen.
 
Was wir brauchen, sind Startchancen. Wir müssen eine investive Strategie einschlagen, die schon bei kleinen Kindern beginnt und die die Voraussetzungen dafür schafft, dass junge Menschen unabhängig vom Elternhaus die Chance auf gleiche Teilhabe am wirt-schaftlichen, sozialen und kulturellen Leben erhalten. Startchancen allein reichen aber nicht. Wir müssen Bildung als einen Prozess begreifen, der lebenslang dauert und le-benslang Chancen bereithält. Innovation und wirtschaftliche Dynamik können dauer-haft nur dann verwirklicht werden, wenn soziale Ausgrenzung entschieden bekämpft wird und wenn wir die besten Bedingungen für die Kreativität und die Mitwirkung möglichst vieler Mitglieder der Gesellschaft sicherstellen.

Bildung wird auf den verschiedenen Ebenen zu der sozialen Frage des 21. Jahrhunderts werden. Deswegen ist heute nichts so gerecht wie die entschlossene Ausweitung von Bildungszugängen und Bildungsschancen.

Erwerbsarbeit ist in unserer Gesellschaft noch immer die wichtigste Quelle für soziale Identität und für psychische Stabilität. Entsprechend ist Arbeitslosigkeit nicht nur ein ökonomisches Problem, sondern auch der Ausschluss aus einem, vielleicht dem wich-tigsten Kernbereich gesellschaftlicher Teilhabe mit gravierenden Folgen für die eigene Selbstachtung, die wir ja mit John Rawls als Grundgut der Gerechtigkeit ausgemacht haben. Daher ist das Ziel, Menschen bestmöglich auszubilden und für mehr Erwerbsar-beit zu sorgen, ein zentraler Beitrag zum inneren Zusammenhalt unserer Gesellschaft und zu mehr Gerechtigkeit .

III.

Doch wir können es nicht dabei belassen, lediglich die Bedingungen für die Wirtschaft und die Arbeitsmärkte zu verbessern. Wir müssen auch darüber nachdenken, welche Hilfe diejenigen brauchen, die zeitweise oder dauerhaft nicht in der Lage sind, ihre Exis-tenz zu sichern und am wirtschaftlichen und sozialen Leben zu partizipieren.

Hier sind und bleiben die Strukturen des Sozialstaats unverzichtbar, ja mehr noch: Wo die Erwerbsbiografien immer weniger stetig verlaufen, wo Bildung zum entscheiden-den Kriterium der individuellen Beschäftigungsfähigkeit wird, da wird die Existenz ei-nes Sozialstaats wichtiger denn je. Ich betone immer wieder: Der funktionierende und effiziente Sozialstaat ist kein Luxus, den man sich nur in besseren Zeiten leisten konn-te. Richtig organisiert, ist der moderne Sozialstaat vielmehr die entscheidende Voraus-setzung dafür, dass der ökonomische Erfolg unserer Gesellschaft überhaupt möglich ist.

Dazu gibt es nicht nur einen Weg. Die europäischen Staaten haben sehr unterschiedli-che Entscheidungen über die Gestalt ihrer Sozialstaatlichkeit getroffen. In der Debatte um die Zukunft der Sozialverfassungen Europas angesichts der globalen Veränderun-gen haben wir keinen Anlass, von den Entwicklungspfaden abzugehen, die wir in Deutschland eingeschlagen haben. Das deutsche Modell ist überlebens- und konkur-renzfähig. Wir haben nur Anlass, immer wieder zu prüfen und zu aktualisieren, was verbessert oder neu gemacht werden muss.

IV.

Die Aufgabe der Daseinsvorsorge und der sozialen Sicherung ist aber nicht allein Sache des Staates. Sie, lieber Herr Gohde, haben einmal gesagt, dass es für die deutsche und die europäische Diakonie eine Schlüsselfrage sei, ob es gelingt, diakonische Unterneh-men in einen aktiven Gestaltungsprozess einzubeziehen, und zwar ohne dabei unter-nehmerische und anwaltschaftliche Diakonie als einander ausschließende Modelle zu betrachten.

Grundsätzlich gilt das Prinzip der Subsidiarität. In Deutschland hat es Verfassungsrang, und im EG-Vertrag ist der Grundsatz in Artikel 5 verankert, in dem es heißt, die Ge-meinschaft dürfe im Bereich der nicht ausschließlichen Kompetenzen nur tätig werden, sofern und soweit die Ziele einer Maßnahme nicht auf der kleinen Ebene aus-reichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkun-gen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.

Der Beteiligung der Zivilgesellschaft kommt bei der Gestaltung von Sozialpolitik eine große Bedeutung zu. Die Konferenz von Maastricht hat in ihrer Erklärung 23 betont, ich zitiere, dass zur Erreichung der in Artikel 136 des Vertrags zur Gründung der Europäi-schen Gemeinschaft genannten Ziele eine Zusammenarbeit der Europäischen Gemein-schaft mit den Verbänden der Wohlfahrtspflege und den Stiftungen als Trägern sozia-ler Einrichtungen und Dienste von großer Bedeutung ist.

Die freie Wohlfahrtspflege in Deutschland ist eine zentrale Säule der Daseinsvorsorge. Daran soll sich nach dem Willen der SPD und der Bundesregierung auch nichts ändern. Ausdrücklich hat sich die Regierung in ihrer Stellungnahme zum Grünbuch zu Dienst-leistungen von allgemeinem Interesse der Europäischen Kommission zum Subsidiari-tätsprinzip bekannt. Das heißt: Definition, Ausgestaltung Organisation und Finanzie-rung entsprechender Dienstleistungen sind Aufgaben der Mitgliedstaaten und ihrer Untergliederungen. Eine aktiv gestaltende Politik der Gemeinschaft bei Dienstleistun-gen von allgemeinen und nichtwirtschaftlichen Interessen sind außer, wenn es sich um allgemeine wirtschaftliche Interessen handelt, die aufgrund ihrer Größe und struktu-rellen Vernetzung gemeinschaftsweite Bedeutung haben und sektoral geregelt sind, aus der Sicht der Bundesregierung weder kompetenzrechtlich möglich noch wün-schenswert.

Diese Grundentscheidung für das Subsidiaritätsprinzip hat übrigens auch Folgen für die Demokratie. Eine vom norwegischen Parlament in Auftrag gegebene und Ende 2003 veröffentlichte Studie hat gezeigt, dass politische Verantwortung abnimmt, je weniger Bedeutung die lokale Demokratie hat, also eine solche, die den Bürgerinnen und Bürgern die Erfahrung ermöglicht, auch zwischen den Wahlen die Gestaltung ihrer Lebensumstände zu beeinflussen.

Angesichts des tief greifenden Wandels der ökonomischen und sozialen Verhältnisse in Deutschland und in Europa sind alle Akteure der Staat, die Kirchen und die Institutio-nen der Zivilgesellschaft im Wettstreit um die beste Praxis gefragt. Es gehört zur De-mokratie, über Wege und Ziele konstruktiv zu streiten. Aber ich bin sicher, dass ein Deutschland und ein Europa, die das Prädikat sozialer Gerechtigkeit verdienen, auch aller gemeinsamen Anstrengung wert sind. In diesem Sinne freue ich mich auf die Diskussion mit Ihnen, Herr Gohde, und mit Ihnen, meine Damen und Herren.
 
Vielen Dank.